Urteil im „SUV-Prozess“: Bewährung, gerade noch

Das Berliner Landgericht verurteilt den Unfallfahrer von der Invalidenstraße zu zwei Jahren auf Bewährung. Er hatte 2019 vier Menschen getötet.

Frau legt Blumen vor Papiersilhouetten der Unfallopfer

Mahnwache für die vier getöteten Fuß­gän­ge­r:in­nen Foto: Christian Mang/imago

BERLIN taz | Im sogenannten „SUV-Prozess“ hat das Berliner Landgericht nach vier Monaten am Donnerstag das Urteil verhängt: Der Angeklagte, der am 6. September 2019 auf der Invalidenstraße in Mitte mit seinem Wagen in eine Menschengruppe raste und vier Personen tötete, erhält wegen fahrlässiger Tötung und Gefährdung des Straßenverkehrs eine Bewährungsstrafe von zwei Jahren.

Die RichterInnen gingen damit über den Antrag der Staatsanwaltschaft hinaus, die anderthalb Jahre Bewährung gefordert hatte. Hinzu kommen ein Entzug der Fahrerlaubnis für zwei Jahre und eine Zahlung von 15.000 Euro an einen gemeinnützigen Verein. Gegen das Urteil kann Revision einlegt werden.

Der heute 45-jährige Michael M. hatte einen epileptischen Anfall erlitten und infolgedessen das Gaspedal durchgetreten, als er mit seiner Mutter und seiner Tochter in einem Porsche Macan Turbo unterwegs war. Da bei ihm einen Monat zuvor aufgrund dieses Leidens eine Gehirnoperation durchgeführt worden war, ging es im Prozess hauptsächlich um die Frage, ob M. mit einem neuerlichen Anfall zu rechnen hatte und entgegen ärztlichem Rat Auto gefahren war.

In der Begründung des Urteils durch den Vorsitzenden Richter wurde deutlich, dass die Kammer detektivische Arbeit auf der Grundlage von Krankenakten und Aussagen von Ärzten zu leisten hatte. Unter anderem hatte ein behandelnder Arzt M. noch kurz vor dem Unfall mündlich belehrt – „Denken Sie daran, nicht Auto zu fahren!“ –, dies jedoch erst zehn Tage nach dem Unfall in die Patientenakte eingetragen, weil er sich der Bedeutung dieser Information bewusst geworden war.

Der Vorsitzende Richter ging noch einmal auf die Verteidigungsstrategie des Angeklagten ein: Der hatte zu Protokoll gegeben, dass er die mündliche Warnung als Verweis auf eine von einem anderen Arzt erwähnte, bereits abgelaufene Vier-Wochen-Frist verstanden habe. Dem wollte das Gericht nicht folgen, auch nicht der Argumentation M.s, er hätte schließlich niemals seine eigene Familie durch die Mitfahrt im Auto gefährdet, wenn ihm das Risiko bewusst gewesen sei.

„Sie waren sensibilisiert“

Gegen einen solchen Fall von „unbewusster Fahrlässigkeit“ sprach aus Sicht des Gerichts nicht nur die Tatsache, dass M. weiterhin entsprechende Medikamente einnahm. Gegen ihn verwendet wurde auch seine als Entlastung gemeinte Aussage, man habe ihm versichert, dass sich ein neuerlicher Anfall durch eine sogenannte Aura rechtzeitig ankündigen würde. „Das belegt, dass Sie sich des Risikos bewusst gewesen sind“, so der Vorsitzende Richter. „Sie waren mehr als sensibilisiert.“

Als strafmildernd beurteilten die RichterInnen M.s Bereitschaft, seine Ärzte der Schweigepflicht zu entheben. Das sei eine „entscheidende Aufklärungshilfe“ gewesen, ohne die es vielleicht gar nicht nicht zu einer Verurteilung gekommen wäre. M. sei nicht vorbestraft gewesen, er habe versichert, dass ihm die Tat unendlich leid tue, und er habe von sich aus einem der Nebenkläger 50.000 Euro gezahlt. Das Gericht habe „sehr, sehr lange beraten“ und sei „gerade noch“ zu dem Schluss gekommen, dass die Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden könne.

Es bleibt in diesem Fall, der bundesweit für große Aufmerksamkeit gesorgt hatte, eine Diskrepanz zwischen dem Leid der Opfer und den Mitteln, die aus Sicht des Gerichts zu Verfügung standen. Gestorben waren zwei 28 und 29 Jahre alte Männer, sowie ein Dreijähriger und seine Großmutter. „Das Strafrecht stößt hier an seine Grenzen“, so der Vorsitzende Richter, „es kann den Schmerz der Hinterbliebenen nicht lindern.“ Er erinnerte noch einmal an die im Prozess gesichteten Bilder, die die Dashcam des Angeklagten aufgezeichnet hatte: „Das sind erschütternde Aufnahmen.“

ISA hätte nicht geholfen

In einer Reaktion auf das Urteil erinnerte die Fußgängerlobby FUSS e. V. an die elektronische Motordrosselung „ISA“, die es FahrerInnen unmöglich macht, das örtliche Tempolimit zu überschreiten. Zwar habe die EU das System ab 2024 für alle Neuwagen verpflichtend gemacht, so FUSS-Sprecher Roland Stimpel, auf Druck der Autolobby habe die EU aber auch ermöglicht, dass das System mit einem starken Druck aufs Gaspedal ausgeschaltet werden kann.

Damit hätte ISA auch beim Unfall von Michael M. keine Wirkung gehabt. „ISA muss dringend nachgeschärft werden“, sagte Stimpel. Dem Sicherheitsverband „European Transport Safety Council“ zufolge könne das Einhalten aller Tempolimits die Zahl der Verkehrstoten um 20 Prozent senken. „Das wären in der EU mehr als 4.000 gerettete Menschenleben im Jahr.“ Auch Autorennen und Poser-Fahrten wären dann eine Sache der Vergangenheit.

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