Einsames Sterben im Krankenhaus: Singend fuhr er in die Klinik

Ein Familienvater wird operiert. Wegen der Pandemie darf seine Familie nicht zu ihm. Der Mann stirbt – und seine Tochter quälen nun schmerzvolle Fragen.

Ein Krankenhausbett

Sein Leben lang war der Vater unserer Autorin der starke Mann, der immer alles im Griff hatte Foto: Richard Baron/plainpicture

Es ist ein Dienstagabend im Januar, ich spreche gerade mit einem Freund, als meine Mutter bei mir anruft. Ich überlege, ob ich drangehen soll, und entscheide mich dagegen. Ich bin müde und gerade mit mir selbst beschäftigt. Außerdem: Was soll schon sein?

Am nächsten Tag ruft mein Bruder an. Er war mal Rettungssanitäter, vermutlich klingt seine Stimme deshalb so ruhig und professionell. Er sagt: „Der Senior ist heute Morgen bewusstlos in seinem Krankenhauszimmer aufgefunden worden.“ Ein Rettungsteam habe ihn reanimieren müssen und ihn vorübergehend in ein künstliches Koma versetzt. Am Nachmittag werde man versuchen, ihn „zurückzuholen“. Während mein Bruder spricht, weine ich los wie ein kleines Kind. „Nein, nein, nein“, höre ich mich immer wieder sagen. Ich kann nicht glauben, dass das gerade passiert.

Kurz vor Weihnachten hatte eine Ärztin einen Tumor in der Lunge meines Vaters entdeckt. Das Geschwulst war bösartig, aber ziemlich klein, gut abgekapselt und hatte nicht gestreut. Man entschied, es herauszunehmen.

„Aber er hat die OP doch gut überstanden!“, sage ich nach der schrecklichen Nachricht meines Bruders zu meiner Schwester. Und sie sagt einen Satz, der mir seither nicht mehr aus dem Kopf geht: „Ich darf gar nicht darüber nachdenken, wie alleine er die letzten Tage gewesen ist.“

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Denn wegen Corona gilt in dem Krankenhaus, in dem mein Vater operiert wurde, seit Monaten ein Besuchsverbot. Nach Absprache seien für Angehörige von Schwerkranken und Sterbenden Ausnahmen möglich, lese ich nun – nachträglich – auf der Klinikhomepage. Ob diese Ausnahmeregelung auch schon existiert hat, als mein Vater seinen Klinikaufenthalt vorbereitete, kann ich nicht sagen. Ebenso wenig, ob sie auf ihn zugetroffen hätte. Sicher ist allein dies: Mein Vater ging nicht als Sterbender ins Krankenhaus. Sondern als ein Patient, auf den ein geplanter Eingriff zukam.

Hat mein Vater die Ärzte ab einem bestimmten Zeitpunkt gefragt, ob wir ihn vielleicht doch besuchen können? Ist ihm diese Bitte verwehrt worden? Oder hat er sich erst gar nicht nach einer möglichen Ausnahme von der strengen Regel erkundigt? Inzwischen weiß ich: Zu meiner Mutter hat er gesagt, wie furchtbar er es finde, ins Krankenhaus zu müssen und dort nicht besucht werden zu können.

„Kein Grund zur Panik“, war sein Motto

Mein Vater war 67, als er starb, und schon lange sehr krank. Für uns, seine Familie, fing es damit an, dass er meiner Mutter eines Tages eine Packung Herztabletten auf den Tisch legte. Die müsse er jetzt nehmen, sagte er. „Kein Grund zur Panik.“ Drei Jahre ist das her. Seitdem ging es mit seiner Gesundheit bergab.

Ich erinnere mich noch, wie mein einst so großer und starker Vater nach einem Streit mit mir plötzlich in sich zusammengesunken auf der Terrasse saß und in sein Bierglas starrte. Seine Schultern hingen nach vorne. Es sah so aus, als ob unser Wortgefecht ihm die letzte Kraft aus seinem Körper gezogen hätte. Nie zuvor hatte ich ihn so schwach gesehen.

Ich will mir gar nicht ausmalen, wie hilflos er sich gefühlt haben muss, als ihm, der so gerne im Discounter Schnäppchen machte, nun manchmal sogar der Einkaufskorb zu schwer wurde. Dann kam Corona und machte meinen Vater, den Juristen, der doch eigentlich immer alles im Griff hatte, von einem Tag auf den anderen zum Risikofall. Statt seine Mandanten zu treffen und mit ihnen über Scheidungen oder Strafsachen zu sprechen, war er zum Telefonieren, Herumsitzen und Tablettenschlucken verdammt. Das Kortison schwemmte sein Gesicht so sehr auf, dass ich ihn manchmal kaum noch wiedererkannte, und ließ ihn oft so lange schlafen, dass meine Mutter sich jeden Morgen erst einmal bang vergewisserte, ob er noch lebte.

Ich erinnere mich auch daran, wie wir an einem Sommertag in einem Biergarten saßen und ein Paar im Alter meiner Eltern hereinspazierte. Sie war so fit wie meine Mutter, er sehr schlecht zu Fuß. Mein Vater sagte, er habe Angst, auch so zu enden. Erst ein paar Tage zuvor war er bei einer Wanderung immer weiter hinter uns zurückgefallen. Ein an seiner körperlichen Verfassung zunehmend verzweifelnder Mann.

Ein paar Monate später erlitt er einen Schwächeanfall. Ein Rettungswagen brachte ihn ins Krankenhaus, und die vermeintlichen Herzprobleme erwiesen sich bei näherer Untersuchung als eine Lungenfibrose. Durch die fortschreitende Vernarbung des Gewebes fiel ihm das Atmen schwerer.

Ich kenne niemanden, der so viel geraucht hat wie mein Vater. Als er nach 25 Jahren endlich damit aufhörte, kaute er ein Kaugummi nach dem anderen. Erst Nikotinkaugummis, später die billigen Pfefferminzkaugummis von Lidl. Bald klebten sie unter jedem Tellerrand, auf Tischplatten, Bierdeckeln, Kopfkissen. In seinem Auto standen immer zwei Dosen, eine mit frischen und eine mit verbrauchten Kaugummis, wie mein Bruder eines Tages entsetzt feststellte, nachdem er sich beinahe eines aus der falschen Dose in den Mund geschoben hätte.

Ob das Rauchen der Auslöser für die Fibrose gewesen ist oder etwas anderes, weiß niemand. Fest steht: Mein Vater hat sich während seines Lebens nicht geschont und war meist mehr für andere da als für sich selbst. Das Männerbild seiner Generation steckte ihm in den Knochen: Er war derjenige, der anderen sagte, wo es langging, und er stand einem selbst dann mit Rat und Tat zur Seite, wenn man ihn gar nicht darum gebeten hatte. Als er selber Hilfe brauchte, zog er sich zurück, ließ niemanden an sich heran.

Mit einer Reisetasche verschwand er durch die Drehtür

Ich war für ihn die Frau mit der lila Tinte im Füller, weil ich mich mit Feminismus beschäftige. Wären wir uns als Gleichaltrige begegnet, hätten wir vermutlich unsere Schwierigkeiten mit­einander gehabt. Als Vater und Tochter aber haben wir uns sehr geliebt. Dass er jetzt für immer weg ist, ist auch deshalb so schwer zu ertragen, weil er seine letzten Tage ohne Familie und Freunde an einem Ort verbringen musste, der ihm wohl mehr Angst gemacht hat als alles andere auf der Welt.

Natürlich frage ich mich heute, ob die Operation bei seiner vorgeschädigten Lunge wirklich hätte sein müssen. „Er selbst hat das nicht hinterfragt“ – so erzählt es meine Mutter. Noch zwei, drei gute Jahre habe er sich gewünscht, in denen er seine Enkelkinder weiter aufwachsen sehen wollte. „Zum Glück war Charlotte mit im Auto, als ich ihn in die Klinik gebracht habe“, sagt meine Mutter. Charlotte ist meine einjährige Nichte. Auf der Fahrt ins Krankenhaus hörten sie Kinderlieder, und mein Vater, der auf der Rückbank saß, beugte sich nach vorne, in Richtung Kindersitz, und sang mit. Dann stieg er aus, gab beiden einen Kuss. Meine Mutter und Charlotte sahen ihm nach, wie er mit seiner Reisetasche durch die Drehtür des riesigen Betonbaus verschwand.

Seine letzten Tage zu Hause war mein Vater mit der Rationalität eines Juristen angegangen. Selbst über die Weihnachtstage, auf die er sich so gefreut hatte, weil wir da alle zusammenkamen, zog er sich in sein Arbeitszimmer zurück – um die Steuererklärung fertigzumachen. Er sagte zu mir: „Ich will vor der OP einfach alles erledigt haben, damit eure Mutter im Fall der Fälle nicht allein dasteht.“

Typisch Papa, dachte ich und schob das aufkommende panische Gefühl beiseite. Es ist doch nur ein minimalinvasiver Eingriff, beruhigte ich mich.

Zum Selbstverständnis meines Vaters gehörte aber auch, dass ihn niemand zum Arzt begleiten durfte. Nur er selbst wusste schließlich, wie es wirklich um ihn stand.

WLAN und Wunschdenken am Krankenbett

Die OP sollte in den frühen Morgenstunden stattfinden. Das war alles, was wir, seine Familie, die nicht bei ihm sein konnten, wussten. Danach ließ man uns warten: eine Stunde. Zwei Stunden. Es wurde Mittag. Nachmittag. Als sich endlich jemand bei meiner Mutter meldete, mit der Nachricht, dass alles gut verlaufen sei, war es draußen schon dunkel geworden.

Auch in den kommenden Tagen blieb uns nichts anderes übrig, als auf die seltenen Anrufe meines Vaters zu hoffen. Im Nachhinein kommen sie mir beinahe absurd vor. So ging es ihm in den ersten Gesprächen vor allem darum, dass wir ihm bei der Einrichtung seines WLAN-Zugangs helfen, damit er störungsfrei Fußball gucken konnte. Ich weiß noch, wie meine Schwester und ich darüber lachten. „Dann ist das Schlimmste wohl überstanden.“

Doch das war Wunschdenken, vermutlich auch bei ihm. Schon kurz nach dem Eingriff gab er sich alle Mühe, sich mit einem Rollator von einem Ende des Stationsflurs zum anderen zu schleppen. Meiner Mutter verriet er am Telefon, wie erschöpft er nach diesem einen Gang war. Er wollte, koste es, was es wollte, entlassen werden. Raus aus diesem schrecklichen Gebäude, nach Hause zu seiner Familie. Ein kühles Bier in seinem Arbeitszimmer trinken, das wir aus Spaß Kommandozentrale getauft hatten. Mit seinen Enkelkindern Quatsch machen.

Bei unserem letzten Telefonat hätte ich hellhörig werden müssen. Es dauerte nur 21 Sekunden

Spätestens bei meinem letzten Telefonat mit ihm hätte ich hellhörig werden müssen. Es dauerte nur 21 Sekunden. Nie hatte er gerne telefoniert. Aber 21 Sekunden waren selbst für ihn ein Kurzzeitrekord.

Dann überschlugen sich die Ereignisse. Es kam eine Nacht, in der er halluziniert hatte, wie er meiner Mutter später am Telefon erzählte. Wieder und wieder rief er am nächsten Tag bei ihr an, und seine Stimme wurde von Gespräch zu Gespräch schwächer.

In einer anderen Zeit, jenseits der Pandemie, wenn Besuche möglich gewesen wären, hätte ich, hätten wir alle in so einer Situation alles stehen und liegen gelassen und wären zu ihm gefahren. Doch in dem Krankenhaus, in dem mein Vater lag, kamen wir nicht mehr an ihn ran.

Oder mache ich es mir damit zu einfach? Waren wir zu unbedarft? Hätten wir dieses Besuchsverbot viel stärker hinterfragen müssen?

Ob man uns erhört hätte, ist noch mal eine andere Frage.

An dem Tag, an dem er sich so schwach und schon so oft bei meiner Mutter gemeldet hatte, kam spätabends ein weiterer Anruf: Es gehe ihm sehr schlecht, flüsterte mein Vater. Meine Mutter solle bei meiner Tante anrufen, die Ärztin ist. Also klingelte meine Mutter meine Tante heraus, die wiederum bei meinem Vater anrief und aufgrund des Klangs seiner Stimme entschied, dass er sofort auf die Intensivstation müsse. Meine Tante telefonierte daraufhin mit einem befreundeten Kollegen, der in dem Krankenhaus arbeitet, in dem mein Vater lag, und der seine Kol­le­g:in­nen einschaltete, die meinen Vater noch einmal untersuchten. Sie entschieden, dass er trotz Fibrose, Lungen-OP und schwachem Herzen auf der Normalstation verbleiben sollte.

Später erzählte uns der Intensivarzt, der meinen Vater am nächsten Morgen reanimiert hatte, dass dieser noch selbst die Notklingel gedrückt habe. Doch da war es bereits zu spät. Obwohl er noch einmal wiederbelebt werden konnte, waren seine Organe zu stark geschädigt. Die lebenserhaltenden Maßnahmen wurden eingestellt.

Was bleibt?

Große Traurigkeit.

Und auch Wut.

Letzten Endes durften wir meinen Vater dann doch besuchen: Als er ohne Bewusstsein auf der Intensivstation vor sich hindämmerte, war es plötzlich möglich, zu fünft an seinem Bett zu sitzen und seine Hand zu halten – bis er starb. Ich hoffe, dass er ein klein wenig gespürt hat, dass er dabei dann doch nicht alleine war.

Als wir nach seinem Tod noch einmal mit der Klinik telefonierten, hieß es, dass wir gerne bei Gelegenheit in der Station vorbeikommen könnten. Man würde uns dort dann seine Reisetasche übergeben.

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