Corona und Impfpflicht: Impfung oder Lockdown

Bei der Impfpflicht geht es nicht um Gewissensfragen, sondern um die Lösung für ein Problem. Nur durch Impfungen sind die Krankenhäuser zu entlasten.

Eine Frau hält eine Spritze und spiegelt sich in einem übergroßen Coronavirus, Illustration

Bewegt unsere Zeit: das Coronavirus Illustration: Katja Gendikova

Es sei seines Erachtens sehr vernünftig, sich impfen zu lassen, aber er wolle auf keinen Fall, dass der Staat den Menschen vorschreibt, was vernünftig ist. So begründete der FDP-Abgeordnete Wolfgang Kubicki seine Ablehnung einer Corona-Impfpflicht vorige Woche in der Orientierungsdebatte des Bundestags. Beim ersten Hinhören klingt das wie eine dieser hübschen paradoxalen Differenzierungen, die eine freiheitliche politische Ordnung unbedingt braucht: „Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden.“

Wahlweise „Ich teile Ihre Meinung nicht, aber ich würde mein Leben dafür einsetzen, dass Sie sie äußern dürfen.“ – Fügt sich das Kubicki-Statement von der Vernünftigkeit der Möglichkeit der Unvernunft also nicht perfekt in das Poesiealbum des Liberalismus? Das mag durchaus sein, aber es trägt nicht die Ablehnung einer Impfpflicht. Zum einen kann es ein Recht auf „unvernünftigen“ Freiheitsgebrauch nur geben, wenn man lediglich seine eigenen Interessen beschädigt.

Wer seine Finanzen durch Prasserei, seine beruflichen Aussichten durch Faulheit und seine Gesundheit durch Rauchen und Trinken ruiniert, hat beste Argumente, auf seinem Recht auf Unvernunft zu bestehen: Der freiheitliche Staat hat seinen Bürgern nicht vorzuschreiben, was unter Lebensgenuss zu verstehen ist und wie viel davon akzeptabel ist.

Aber darum geht es bei der Impfung nicht: Nicht die Gesundheit des Einzelnen ist ihr Ziel, sondern eine gesellschaftliche Resilienz, die eine Rückkehr zum normalen Leben ermöglicht. Jeder könnte sich selbst überlegen, ob er durch den Verzicht auf eine Impfung das Risiko einer schweren Covid-19-Erkrankung eingehen will – wenn er sich dann still in den Wald zurückzöge und unbemerkt verstürbe. Das tut aber niemand; vielmehr klopfen auch die Ungeimpften an die Krankenhaustür und begehren Hilfe.

Gesellschaftliche Resilienz ist das Ziel

Das ist das ganze Problem: Die Belastung der Krankenhäuser führt dazu, dass wir Menschen mit anderen Erkrankungen nicht mehr zeitnah und hinreichend helfen können, wenn nicht sogar eine Triage droht. Es wird ja schon erforscht und berechnet, wie viele zusätzliche Krebstote uns dieser Engpass bereits gekostet hat. Die Corona-Impfung zu verweigern, ist daher keine private Angelegenheit, wie der abendliche Alkoholkonsum, sondern ähnelt eher der Entscheidung, seine Steuern nicht zu bezahlen – da ist es dann vernünftigerweise auch nicht mehr weit her mit der Toleranz gegenüber der Unvernunft.

Zum anderen: Was wäre denn die Alternative zur Impfpflicht? Das Beschwören der Hoffnung, die Ungeimpften kämen nun doch noch zur Vernunft oder uns fiele plötzlich eine total stylische und überzeugende Werbekampagne für die Impfungen ein, klingt schal und bleibt nicht ohne Grund seltsam unkonkret. „Haben wir wirklich schon alle Mittel ausgeschöpft?“ – sicherlich nicht, aber was wäre denn noch erfolgversprechend, um die Impfquote zu erhöhen?

Wenn die politische Mehrheit der Meinung ist, dass alles Werben und Überzeugen und Anbieten nicht mehr weiterhilft – kann man es ihr verdenken? Verfassungsrechtlich hielte sich das sicherlich im politischen Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum. Denn die Alternativen zur Erhöhung der Impfquote wären die Überlastung des Gesundheitssystems, die niemand redlicherweise wollen kann, oder der immer wiederkehrende Lockdown.

Entweder wir opfern einen Teil der Schwerkranken oder unsere Freiheit der „Tyrannei der Ungeimpften“ – dann wäre die Impfpflicht doch das mildere Mittel, wenn es mit Freiwilligkeit und Überzeugung nicht geht. Dies wird umso deutlicher, wenn man sich klarmacht, dass die Impfpflicht systematisch nichts anderes ist als das Ausweichen vor der Zurückstellung („Posteriorisierung“) der Ungeimpften im Krankenhaus.

Zur Behandlung bitte hinten anstellen

An sich wäre es ordnungspolitisch konsequent, den Ungeimpften zu sagen: „Ihr müsst Euch nicht impfen lassen, das ist Eure Entscheidung. Aber erwartet nicht, dass wir, die alles Erforderliche für unseren Schutz getan haben, dann für Euch auf unsere medizinische Versorgung verzichten. Bitte stellt Euch im Krankenhaus ganz hinten an.“

Dieses Argument gilt grundsätzlich gegenüber allen, die durch ihr Verhalten zu ihrer Behandlungsbedürftigkeit beigetragen haben; in Teilen hat es die Politik auch bereits aufgegriffen, als etwa zu Silvester das Abbrennen von Feuerwerkskörpern weitgehend untersagt wurde, um eine weitere Belastung der Krankenhäuser zu verhindern. Aber es sind im Übrigen kaum Verhaltensweisen erkennbar, durch deren Veränderung die Krankenlast in der Pandemie schnell gesenkt werden könnte – außer dem Impfen.

Und so ist es auch weniger die Gefahr einer schleichenden Risikoindividualisierung und Entsolidarisierung im Versorgungssystem, die uns vor einer Berücksichtigung des Impfstatus bei Behandlungsentscheidungen zurückschrecken lässt. Vielmehr wollen wir auf die professionsethische Orientierung des medizinischen Personals Rücksicht nehmen und ihm eine Sortierung der Patienten anhand des Impfstatus nicht zumuten.

Aber hat Kubicki mit seiner liberalen Intuition nicht vielleicht doch in dem Sinne recht, dass es eine absolute Grenze gibt, was der Staat vom Einzelnen verlangen kann – und die verläuft an seiner Körpergrenze? „My body is my castle“ klingt nicht so schlecht, und so könnte man jede Verpflichtung zum Impfen schlicht als eine staatliche Körperverletzung ansehen, die nie rechtfertigungsfähig ist. Tatsächlich sollte das Überschreiten der körperlichen Grenze ein Warnlicht auslösen – aber hier ist es falscher Alarm.

Wenn die Gefahr groß genug und der Eingriff – wie die Impfung – nur ein minimales Risiko mit sich bringt, lässt sich die Verhältnismäßigkeit letztlich nicht bezweifeln. Die Auffassung, dass staatliche Eingriffe in die körperliche Integrität nie zulässig sind, während die soziale und pädagogische Vernachlässigung der Kinder angesichts geschlossener Schulen hinzunehmen ist, dürfte die Komplexität der Verhältnisse biologistisch verkürzen: Ausgefallene Schulbildung kann viel schlimmer sein als ein kleiner Piks.

Und auch „Mein Bauch gehört mir“ war in der deutschen Rechtskultur nie ein unangefochtener Grundsatz. Es war deshalb nicht klug, die Entscheidung über die Impfpflicht im Bundestag zu einer Gewissensfrage aufzuplustern. Das ist bei medizin- und bioethischen Fragen zwar immer wieder gemacht worden, es ist hier aber nicht nur unglücklich, weil man den Verdacht hat, dass die Ampelkoalition damit gerne verdecken möchte, dass sie gar keine Mehrheit zusammenbekommt.

Dass eine höhere Impfquote nicht nötig sei, ist haltloses Gerede

Es verleiht der Impfdiskussion auch einen Status, den sie nicht hat: Es geht nicht um die Rechtfertigung eines heiklen Bürgeropfers, sondern ganz profan um die faire politische Bewältigung eines Problems: Wollen wir den Lockdown, überlastete Krankenhäuser oder eine Impfpflicht? Diese klare Fragestellung droht nun in den subjektiven Beliebigkeiten der vermeintlichen Gewissensqualen unterzugehen.

Kein Zweifel an der Verhältnismäßigkeit

Ganz und gar an der Sache vorbei gehen alle Behauptungen, eine höhere Impfquote sei nicht nötig oder trage zur Problemlösung nichts bei. Das ist haltloses Gerede, das – außer bei der AfD – im politischen Raum zum Glück auch kaum Gehör findet. Auch die Idee, die Politik habe das deutsche Krankenhauswesen heruntergewirtschaftet und es wäre ein „milderes Mittel“, mehr Intensivbetten aufzustellen, ist schon angesichts des Umstandes, dass Deutschland die höchste Dichte an Intensivbetten hat, schwerlich überzeugend. Kein Gesundheitssystem der Welt fängt eine Pandemie ab, wenn man nichts tut.

Bleibt noch der „Bruch des Versprechens“. Haben nicht alle Politiker und Parteien zunächst versichert, eine Impfpflicht werde es nicht geben? Tatsächlich haben zu Beginn der Impfkampagne alle geglaubt – und die wissenschaftliche Beratung hat das unterstützt –, dass man mit Freiwilligkeit und Überzeugung eine ausreichende und viel höhere Impfquote erzielt, als wenn man auf Verpflichtungen und Sanktionen setzt. Man wollte den Bedenken der Impfskeptiker entgegenkommen.

Dass gerade sie es nun sind, die der Politik das vorhalten, ist auch nicht ganz redlich. Tatsächlich musste die Politik in der Pandemie allerdings lernen, dass man nichts definitiv ausschließen sollte. Aber was folgt daraus? Dass man an dem einmal gemachten Fehler bis an das Ende aller Tage festhalten muss? Die Frage, ob man eine allgemeine Impfpflicht braucht oder ob nicht die Impfpflicht ab einem gewissen Alter ausreicht, um die Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden, mag die Politik unter Heranziehung epidemiologischen Sachverstandes klug beantworten.

Und dann gibt es noch etliche Um- und Durchsetzungsfragen. Aber eine Impfung abzulehnen und dann von allen anderen den Lockdown zu verlangen, weil sonst die medizinische Versorgung nicht mehr sichergestellt werden kann, auf die man mit gesteigerter Wahrscheinlichkeit selbst bald angewiesen sein könnte, ist gewiss keine „vernünftige“ Haltung. Auf sie muss man bei der Einführung einer Impfpflicht keine Rücksicht nehmen.

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ist Professor für Öffentliches Recht, Sozial- und Gesundheitsrecht und Rechtsphilosophie an der Ruhr-Universität Bochum. Er ist Mitglied der Leopoldina und Vorsitzender der Sachverständigenkommission von Bundestag und Bundesregierung zur Evaluation der Corona-Maßnahmen.

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