Wissenschaft für alle: Jeder kann Expertin sein

Im Jahr 2031 ist die Wissenschaft volksnah und verständlich. Unsicherheiten und Abwägungen wurden abgeschafft, jetzt gibt es nur noch Fakten.

Ein Graffiti zeigt eine Frau mit Mundschutz und das Coronavirus an einer Haeuserwand

Wir schreiben das Jahr 2031 und jeder kann bauernschlaue Expertin sein Foto: Jochen Eckel/imago

Früher wollten alle wissen, was sie erwartet, heute haben die meisten schon von der Gegen­wart genug. Wir blicken trotzdem einmal im Monat immer ein Jahr voraus.

Wir schreiben das Jahr 2031. Der Blick auf die Wissenschaft hat sich wohltuend verändert. Die ist viel volksnäher geworden und hat kaum noch etwas von dem enigmatischen Geraune für Eingeweihte, das uns Laien noch vor wenigen Jahren stets so verwirrte. Den Umschwung haben wir der Coronapandemie (2020–2028) zu verdanken. Im Verlaufe der nicht enden wollenden Seuche fingen die Menschen aus Angst, Ungeduld oder Renitenz an, geschmeidigere Informationswege zu gehen.

Vorbei die Zeit, da man scheel angesehen wurde, nur weil man einem pensionierten Hals-Nasen-Hodenarzt in pandemischen Fragen mehr Glauben schenkte als pseudorenommierten „Fachleuten“, die sich ja bekanntlich immer gern mit Ausflüchten wie „Wir wissen das noch nicht genau“ oder „Aufgrund neuer Erkenntnisse haben wir unsere Ansichten geändert“ aus der Verantwortung zu stehlen trachten.

Jetzt herrscht bauernschlaue Hemdsärmeligkeit

Denn die Leute wollen nun mal Fakten. Mit ihren Eiertänzen können die besagten Spezialisten daher gerne als Jongleure im Zirkus Larifari auftreten, aber bitte nicht mehr in der Öffentlichkeit. Schließlich weiß doch jedes Kind: Was zu kompliziert klingt, kann nur zu umständlich erklärt worden sein.

Nun regiert bauernschlaue Hemdsärmeligkeit und jeder kann Expertin sein. Bäckerin, Virologe, Journalistin – das alles sind keine geschützten Berufsbezeichnungen. Ausbildungen sind Schnee von gestern, so können auch Vakanzen schneller und flexibler besetzt werden. Vom Tellerwäscher zum Philosophen – das Wollen bestimmt das Sein.

Das beste Beispiel ist mein polnischer Futurologe Zbigniew. Er stammt aus Thorn wie sein großes Vorbild Nikolaus Kopernikus. Kennengelernt habe ich ihn als meinen Urologen und davor war er Klempner. Jetzt hat er erneut umgesattelt, weil ihn, so seine Worte, „die Zukunft mehr interessiert als ausgeleierte Urogenitaltrakte“.

Sein geliebtes Ultraschallgerät hat Zbigniew in die neue Tätigkeit integriert und analysiert damit die Jahresringe frisch gefällter Bäume und die Handlinien seiner ehemaligen Patienten. Aus deren sterilem Mittelstrahl liest er überdies gesellschaftliche Entwicklungen ab, und mithilfe der Sterne sagt er relevante tektonische Verschiebungen sowie die Fußballweltmeister der kommenden hundert Jahre voraus.

Das Wetter in der nahen Zukunft entnimmt er Presse, Funk und Fernsehen. „Futurologie ist kein Hexenwerk“, merkt er dazu bescheiden an. „Nur eine Mischung aus hartem Handwerk, Recherche, gesundem Menschenverstand und einer Prise Intuition.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Seit 2001 freier Schreibmann für verschiedene Ressorts. Mitglied der Berliner Lesebühne "LSD - Liebe statt Drogen" und Autor zahlreicher Bücher.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.