Zum Umgang mit gefühlter Wahrheit: Keine Diktatur. Punkt

Mit Austausch und Aufklärung versuchen wir, der quer denkenden Gegenöffentlichkeit zu begegnen. Doch nicht jeder Quatsch verdient eine Überprüfung.

Mann von hinten mit Aluhut

Aluhutträger gegen Corona: Widersprüchlichkeit überwinden, indem sie infantil banalisiert wird Foto: U. J. Alexander/imago

Sein Sohn werde gekreuzigt wie der Sohn Gottes, sagt Srdjan Đoković, ehe er genug hat und mit den Augen rollt. Seine Frau und weitere Familienmitglieder tun es ihm gleich. Die Gruppe erhebt sich und stimmt ein serbisches Volkslied an. Die Pressekonferenz ist beendet.

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Sohn Novak sitzt zeitgleich in Australien fest. Er will beim dortigen Grand-Slam-Tennisturnier seinen Titel verteidigen, doch die Einreisebehörde lässt ihn nicht rein. Ein paar Tage und Gerichtstermine später wird ihm sein Visum endgültig entzogen. Die Australian Open starten ohne ihn.

Es ist ein Leichtes, den Fall Đoković seiner Lächerlichkeit zu überführen. Schnell war klar, dass der Tennisstar nicht sauber aus der Sache herauskommen würde. Denn entweder hatte er gelogen und seine Angaben, wann und wie er getestet wurde, waren falsch. Oder aber er hatte sich asozial verhalten und war trotz eines positiven Covid-19-Tests maskenlos auf öffentlichen Veranstaltungen unterwegs. Der Fall hat gute journalistische Arbeit produziert. In kleinteiliger Analyse wurde die Timeline, welche Team Đoković angeboten hatte, auseinandergenommen und geordnet.

Noch mal: Es ist einfach, die Widersprüchlichkeiten Đokovićs herauszustellen, des serbischen Volkshelden, der in Monaco Steuern zahlt; oder sich über die Kommunikation seines Teams lustig zu machen – die Heiligenvergleiche und die Folklore bieten viel an. Gerade die sozialen Medien können ihr Glück mal wieder kaum fassen. Aber was, wenn das alles einkalkuliert ist? Was, wenn der Fall Đoković von etwas anderem als der Wahrheitsfindung erzählt? Warum treibt sich seit Beginn der Posse der Brexitbrandstifter Nigel ­Farage im Lager von Đoković herum und verteidigt ihn in jede Kamera?

Es ist an anderer Stelle schon oft gesagt worden: Längst geht es nicht mehr um Fakten und Wahrheiten, sondern um gefühlte Wahrheiten. Es geht um politische Lager, um Kämpfe, um Gräben und darum, wer in welchem liegt. Đoković ist der neueste Posterboy der politischen und kulturellen Konter-(Konter?)-Revolution, die derzeit jedes gesellschaftliche Thema befällt.

Die Seifenoper der Widerstandsromantik

Ob beim Klimawandel und seinen Leugnern, bei Spontanlinguisten, die vom Gendern überfordert sind, bei rassistischer Besorgnis vor der Überfremdung oder bei Covid-19 und seinem quer denkenden Gemisch: Die gefühlten Wahrheiten sind allgegenwärtig. Und weil sie emotional und umfassend sind, lassen sie Nazis und Esoteriker die Schultern schließen, vereint gegen das Diffuse, gegen das schwer zu Erklärende und genau dadurch wahrhaftige Gefühl der Unterdrückung. Stolz bestehen sie auf der eigenen Rolle in der selbst verfassten Seifenoper der Widerstandsromantik.

Im November 2020 verglich sich eine Elfjährige auf einer Querdenkerdemo in Karlsruhe, von ihren Eltern ans Mikro gelassen, mit Anne Frank. Im gleichen Monat gab eine Jana aus Kassel öffentlich zu Protokoll, ihr ginge es wie Sophie Scholl, womit sie kurze, bittere Berühmtheit erlangte. Das absolute Gefühl, im Recht zu sein, heiligt die Mittel, erlaubt es, sich einen gelben Stern mit dem Wort „Ungeimpft“ an den Oberarm zu heften.

Ästhetische und intellektuelle Verfehlungen wie diese verdienen es selbstredend, als ebensolche beschrieben zu werden: als schrille, historisch verblendete, problematische bis ekelerregende Kommunikationsdesaster. Jedoch: Was, wenn all jene, die so reden, die so argumentieren, all dies bereits wissen?

Der allgemeine Versuch, dieser Masse an Verfehlungen Herr zu werden, ist das Ethos des Austausches. Man schenke ihnen allen eine Anne-Frank-Biografie! Man nehme sie mit zum Diskurs! Es wird gelanzt und gehartaberfairt, es wird eingeladen, ins Wort gefallen und ausgeredet, ehe es wieder in die Maske geht, ohne dass sich jemand inhaltlich bewegt hätte. Im Gegenteil, jede Seite nimmt sich die liebsten Schnipsel des selbst Gesagten und recycelt sie auf Twitter.

Der Duktus der Aufklärung adelt jedwede Idiotie

Währenddessen nimmt der klassische Journalismus das wenige Geld, das er noch übrig hat, und steckt es in Faktencheckbudgets und Recherchepersonal. Hier wird versucht, die Realität in ihre Einzelteile zu zerlegen, sodass sie irgendwann klein beigibt. Dem gegenüber steht der Versuch der Bündelung. Von Querdenkern und Absolventen der Donald-Trump-Schule wird versucht, alles einer nicht selten faschistoiden Logik zu unterwerfen. Die Widersprüchlichkeit wird überwunden, indem sie infantil banalisiert wird.

Nun ist es löblich, dass der Journalismus das Prüfen von Gesagtem und das Aufdecken von Verschwiegenem als Markenkern (wieder)entdeckt. Nur entwickelt sich dieser Prozess nicht immer in dem Sinn, den er suggeriert. Der aufklärerische Duktus, der alle ausreden lässt, der jede noch so idiotische Aussage und jeden hanebüchenen Vergleich mit Faktenchecks adelt, lässt oft genau jene Kräfte erstarken, denen man eigentlich die Argumentationsgrundlage zu entziehen versucht.

Dabei ist die Faktenlage und ihre Beschwörung immer auch Selbstfürsorge. Ob beim Abendbrot, in der Redaktion oder auf Twitter: Manchmal muss man bei all den Verrückten und Faschisten einfach nur bestätigt bekommen, dass man nicht den Verstand verloren hat. Es ist ein erleichterndes Gefühl, dass es anderen auch so geht. Auf dieser Grundlage schaffte es ein Fall wie Jana aus Kassel über den eigenen Hashtag bis zu Jan Böhmermann.

Doch es besteht die Gefahr, dass der Versuch, sämtlichen politischen Widersprüchen mit Fakten und Sachlagen zu begegnen, etwas Neurotisch-Naives bekommt. Dieser Impuls ist genauso wirksam, wie dem/der Fünfjährigen zu erklären, warum das frühe Zubettgehen ja eigentlich in seinem/ihrem Sinne sei. Die Argumente mögen noch so stichhaltig sein, dennoch will der Nachwuchs die Playstation einfach nicht ausmachen.

Solidarität als Gegennarrativ

Es ist nicht hinderlich, die Fakten der politischen Kräfte zu überprüfen. Aber je extremer die Auswüchse, desto mehr ist noch eine weitere Komponente nötig. Anstatt die eigenen gefühlten Wahrheiten zu beseitigen, wie es der Versuch der reinen Sachargumentation suggeriert, braucht es ein Gegennarrativ. Zum Beispiel Solidarität.

Solidarität ist durchaus auch eine gefühlte Wahrheit. Sie berührt nicht nur Rationales, sondern auch Emotionales. Aber eine solidarische Haltung begründet rational 2G-Regelungen und auch, warum Novak Đoković nicht bei den ­Australian Open seinen Titel verteidigen darf.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.

Sich selbst, bei allem Glauben an die Kraft des demokratischen Austausches, auch eine gefühlte Wahrheit zuzugestehen, ist wichtig. Es gibt Momente, da ist es nicht die Logik, die nützt, sondern das Selbstbewusstsein eigener Realität. Jeder kleinsten Ausführung nachzugehen, mit neurotischem Austauschglauben, führt zur Stagnation, zu Realitätsverlust, zur Lähmung, und das gilt sowohl für den Versuch, es mit dem Verschwörungsonkel durch die Weihnachtstage zu schaffen, als auch für journalistisches Arbeiten und den gesamten demokratischen Prozess.

Die Wahrheit ist: Deutschland ist keine Diktatur. Wer das Gegenteil gegencheckt, verstärkt nur den Verdacht, dass daran tatsächlich etwas dran sein könnte. Vielerorts ist der Punkt erreicht, an dem ein mündiger Umgang miteinander auf Augenhöhe und ein faktenbasierter Austausch sich gegenseitig ausschließen. Wer sich um die Wahrheit schert, muss auch wissen, wann sie nur verschwendete Energie ist. Verschwörungstheorien und perverse Holocaustvergleiche lassen sich mit Fakten nicht entkräften. Sie haben eine psychologische, gar pathologische Natur. Ihre Urheber wollen keinen Dialog, sie wollen nur sehen, wie weit sie mit der Masche kommen.

Manchmal will der Nachwuchs nur austesten, wie viele Minuten er rausschlagen kann. Vielerorts ist es Zeit, das Kind ins Bett zu schicken.

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