Verkehrswende in Deutschland: Rad ab in Aachen

An der niederländischen Grenze endet ein Radweg – aber nicht nur dort. Aachen hat den Bürgern eine Fahrradstadt versprochen. Das Ergebnis frustriert.

Breiter roter Radweg endet auf einer Straße

Am Ende des Radlerparadieses: An der Grenze zu Aachen hört auch der Radweg auf Foto: Heike Lachmann

AACHEN taz | Wer aus den Niederlanden nach Aachen radelt, erreicht an der Grenze unmittelbar eine andere Welt. Eben, im Städtchen Vaals, fuhr man noch über einen feuerrot markierten Radweg, abgetrennt durch eine durchgezogene Linie und fast nie illegal beparkt (weil kontrolliert und teuer). Ab der Staatsgrenze, jetzt im deutschen Ortsteil Vaalserquartier, ist die verkehrliche Bronx erreicht. Der Radweg endet abrupt, gut zehn Meter weiter führe man in ein Potpourri aus Pollern und Verkehrsschildern. Hoffentlich geht das Einfädeln in die enge Autospur gut.

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Dabei hat dieses Vaals für niederländische Verhältnisse sogar noch sehr bescheidene Radwege. Und Aachen, die „fahrradfreundliche Stadt“ (Eigenwerbung), kennt noch ganz andere Grotesken, unzumutbar, lebensgefährlich und zum Fremdschämen.

Das sollte sich alles ändern. Aachen hat beste Voraussetzungen, um die anvisierte radkonforme Verkehrswende zu vollziehen. Zum einen kann man vom großen Vorbild Niederlande nebenan lernen. Und zum anderen haben Aachens BürgerInnen 2019 den erfolgreichsten Radentscheid Deutschlands hingelegt.

In vielen europäischen Städten wächst derzeit der Wunsch nach einer menschenfreundlicheren, weniger autozentrierten Verkehrspolitik. Mancherorts schreitet die Veränderung sehr schnell voran, woanders gibt es sehr große Probleme.

In einer Serie stellt die taz gute und schlechte Beispiele städtischer Mobilitätspolitik vor. Schon er­schienen: Berlin (22. 12.), Rom (28. 12.), Madrid (30. 12.) Paris (5. 1.), Wien (12. 1.).

38.185 Menschen hatten damals das Bürgerbegehren unterzeichnet, knapp 20 Prozent der Unterschriftsberechtigten, das höchste Quorum aller rund 50 deutschen Radentscheide bislang. Die Forderungen: ein durchgängiges Radwegenetz, der Bau von fünf Kilometern geschützter Wege an Hauptstraßen pro Jahr, der rad- und fußgängersichere Umbau dreier Kreuzungen jährlich und der Ausbau von Radparkplätzen. Bis 2027 sollte das Projekt abgeschlossen und Aachen eine Radlerstadt geworden sein.

Der Stadtrat hat das Bürgerbegehren Ende 2019 fast einstimmig angenommen, auch mit den Voten der „Hubraumparteien CDU und SPD“, wie die Aachener Nachrichten notierten. Mit diesem robusten Mandat verpflichtete sich die Stadt zur Umsetzung.

Große Pläne – aber nur 111 Meter sicherer Radweg

Doch passiert ist seitdem – fast nichts. Ja, es gibt langfristig vage Planungen und große Worte. Ja, es existieren jetzt ein paar hundert neue Radbügel. Ja, entstanden sind auch schon 111 Meter abgetrennter, sicherer Radweg, eine launige Zahl für eine Karnevalsstadt. 111 Meter statt 10.000.

Jetzt aber steht ein Umbau ebenjener Vaalser Straße ab Grenze an, für jeweils 250 Meter. Die Verwaltung schlug geschützte Radwege nach Radentscheid-Vorgaben vor. Die Mehrheit im Rat – Grüne, Linke, Volt, Piraten, SPD – hob den Daumen.

Aber: Drei Dutzend Parkplätze sind akut bedroht. Deshalb begehrten AnwohnerInnen auf. Die CDU schloss sich an. Dabei gibt es direkt an der Grenze einen großen Parkplatz für 70 Kraftfahrzeuge – der jedoch wird indes kaum genutzt, weil er pro Stunde einen vollen Euro kostet, das Tagesticket sechs. Viele kostenfreie Parkbuchten werden seit jeher gern von Niederländern zugestellt, weil es bei denen direkt nebenan kosten würde.

Und so trafen sich CDU-PolitikerInnen im Frühherbst, um mit AnwohnerInnen über die Parkplatznot zu diskutieren – auf dem leeren Parkplatz, ein groteskes Bild. Anschließend rügte die CDU im Stadtrat die fehlende Bürgerbeteiligung und legte per Geschäftsordnung ein Veto zum Umbau ein – ein Novum in der Nachkriegsgeschichte Aachens. Für ein paar Meter Radweg.

Die Vaalser Straße ist ein Musterbeispiel für die Komplexität politischer Prozesse und die Eitelkeiten lokaler PolitikerInnen. Wo immer seit Anfang 2020 neue Radinfrastruktur auch nur angedacht wird, setzt es Widerstand, FDP-Gestrige vorneweg, oft die Bezirks-CDU huckepack.

Die seltsamen Argumente der Autofans

Gern schimpfen Anrainer dabei über geplante „Radautobahnen“ Und viele glauben, es fahre ja vergleichsweise kaum jemand mit dem Rad. Dabei sorgen sichere Radwege umgehend für massiv mehr Velonutzung und also für weniger Autos. Das ist wie ein Naturgesetz, überall bewiesen, ob in Kopenhagen, Brüssel, Gent oder Paris, in den Niederlanden sowieso.

Und da ist der kleinmütige Nimby-Effekt – die Abkürzung steht für „not in my backyard“, also „nicht in meinem Hinterhof“. Wegen der bequemen Parkplätze.

Andere finden fantasievollere Argumente. Kommen Paketboten noch durch, Pflegedienste, Taxis, Müllabfuhr, gar Rettungsdienste? Mäßig realistisch, dass die Feuerwehr ein Haus niederbrennen lässt, weil sie einen Radweg queren müsste. Und was sei mit der alten Dame nebenan, die sei doch aufs nahe Auto angewiesen!

Eine Aachener Leserbriefschreiberin meinte: Je mehr Radwege, desto weniger Autospuren, die Folge: in der nicht mehr erreichbaren City herrsche bald Trostlosigkeit allerorten, am Ende drohe sogar Hungersnot: „Alle Geschäfte bleiben leer, dann haben wir zwar gute Luft in der Stadt, aber nix zu fressen.“

„Größte Bremse“, sagt Radentscheid-Mitgründerin Almuth Schauber, seien „Mutlosigkeit und Inkonsequenz“ bei Politik und Verwaltung. Veränderung müsse halt „immer wieder erklärt werden, wie man Aachen zu einer lebenswerteren Stadt für alle machen“ wolle, heißt: mehr Aufenthaltsqualität, weniger Blech, Lärm, Gestank, Gefahr. Stattdessen bekämen die Entscheider sofort „kalte Füße, wenn es ans Eingemachte geht“, beklagt sich Schauber.

Manche Aachener mutmaßen, bei einem Stellplatzverlust würden Umwege und Parkplatzsuchverkehr zunehmen, also gebe es am Ende sogar mehr Schadstoffausstoß. Andere drohten, bei einem Parkplatzraub ihren Vorgarten zu asphaltieren. An der Vaalser Straße behauptete eine Architektin, dass Handwerker vertraglich verlangen würden, einen Parkplatz vor der Tür zu garantieren. „Sonst lachen die und kommen nicht. Die haben ja genug zu tun.“

Sogar bedrohte Bäume werden gegen die Radler ins Feld geführt. Wenn Planungen einzelne Baumfällungen vorsehen, beschweren sich Anwohnende über die Zerstörung der Natur. Dass Ausgleichspflanzungen mit klimawandelresistenteren Arten vorgesehen sind, gilt nicht: Die kuschelige Baumreihe vor der Haustür, zwar ständig zugeparkt und wegen massiver Bodenverdichtung erkrankt – die zählt.

Die Bürgermeisterin will alle mitnehmen – aber wohin?

Oberbürgermeisterin Sibylle Keupen (parteilos, für die Grünen angetreten), im Amt seit Ende 2020, spricht gerne davon, „alle mitnehmen“ zu wollen. Gemeint ist: keinem wehtun, also die Quadratur des Kreises. Massiv blamiert hatte sich die Stadtverwaltung schon im Sommer. Auf einer Kreisstraße im Ortsteil Forst, wo eine Radvorrangroute aus Randbezirken entlangführen sollte, fand man nach Parkplatz-Protesten für 400 Meter Strecke keine Lösung. Also bekommt die Route eine Lücke, die routinierten RadlerInnen mögen wie gehabt die enge Straße befahren, die ängstlicheren halt durch das Wohngebiet nebenan kurven. Solches Versagen nennt die Stadt „duale Führung“.

Auch bei vorläufigen Pop-up-Bike­lanes, wie sie vor allem in Berlin ab 2020 gebaut wurden, haben Politik wie Verwaltung in Aachen bislang abgewunken. Nein, wenn schon, dann „grundhaft herangehen“, so die Leiterin des Dezernats Stadtentwicklung. Dabei blieb es dann. Die Folge in der Radszene, so Almuth Schauber: „Ernüchterung, Verdrossenheit, Unverständnis und auch Wut.“

Private Parkplätze im öffentlichen Raum halten viele Aachener offenbar für ein Grundrecht. Deshalb solle die Stadt zunächst einmal Quartiergaragen bauen, heißt es, zudem müsse das Busnetz ausgebaut werden. Auch müssten die Tickets billiger werden.

Eine besondere Logik entwickelte diese Anwohnerin: Die dichte Parkreihe in ihrer Straße müsse bleiben, weil sie Kinder auf dem Bürgersteig vor dem Autoverkehr schütze. Parkblech also als Schutzwall vor dem Fahrblech! In der Autorepublik Deutschland können uns nur Autos vor Autos schützen.

Bei der nachgeholten BürgerInnen-Anhörung Vaalser Straße in der vergangenen Woche setzte es noch einmal neue Argumente: Was passiere, wenn man mal einen Container abstellen will? Wie bei beengten Straßen eine Rettungsgasse funktionieren solle? Geschütze Radwege könnten zudem „Autofahrer verwirren“. Besser, so das Argument, sei es doch, Radwege generell auf Nebenstrecken zu verlegen. Ein Arzt sagte: „Die Patienten kommen zu uns wegen der guten Parkplätze“, und da seien auch „lebensbedrohlich erkrankte Patienten“ dabei. Ein anderer Mediziner sekundiert: „Wo können unsere behinderten Patienten dann parken, wenn die Parkplätze wegfallen?“

Zu erwarten ist, dass die Politik wieder einmal nach einem Kompromiss fahnden wird, der niemandem gefällt. Auch Almuth Schauber ist enttäuscht über endlose Mühsal. Die Verkehrsverwaltung spreche, sagt sie, wolkig von „einem Knaller“, der bis Ende 2023 bevorstehe. „Niemand weiß, was das sein soll. Besser wäre es, eine Vision konkret zu machen.“

Vor allem, sagt Schauber, seien diejenigen Städte bei der Verkehrswende bislang erfolgreich gewesen, in denen Verantwortliche alle Pläne „persönlich zur Chefsache erklärt haben, ob Paris, Oslo, Kopenhagen, Vancouver. Da klappt es.“ Ein indirekter Hinweis an Aachens Oberbürgermeisterin Keupen, die zwar selbst passionierte Radfahrerin ist und sogar die „Modellstadt der Nachhaltigkeit“ versprach, aber in den Dauerdebatten wie abgetaucht wirkt. Schauber: „Wer im Wahlkampf damit wirbt, muss dann auch Verantwortung zeigen.“

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