Finanzexpertin über EU-Taxonomie: „Die EU untergräbt ihr Ziel“

Die EU will Atomkraft und Gas als nachhaltig einstufen. Die Bundesregierung sollte sich dagegen wenden, fordert Magdalena Senn von „Finanzwende“.

Luftaufnahme: Solarpaneele liegen über einer riesigen Fläche

Echte Nachhaltigkeit: größter deutscher Solarpark in Werneuchen/OT Löhme in Brandenburg Foto: Christophe Gateau/dpa

taz: Frau Senn, die EU-Kommission will, dass das neue Siegel für nachhaltige Finanzanlagen auch für Investments in Atomkraft und Gasanlagen gilt – das ist die sogenannte Taxonomie-Verordnung. Welche konkreten Konsequenzen hätte es, wenn sich die EU-Kommission durchsetzt?

Magdalena Senn: Wenn die EU Atom und Gas als nachhaltig definiert, drohen viele nachhaltige Anlagegelder in diese Technologien zu fließen, die in einer klima- und umweltgerechten Welt keine Zukunft haben. Das Wirrwarr von verschiedenen Standards für nachhaltige Finanzanlagen würde bleiben. Bestehende Standards wie das FNG-Siegel in Deutschland oder das französische staatliche Siegel für nachhaltige Fonds schließen Atomkraft aus, zum Teil auch Gas. Aus gutem Grund: Einer Umfrage von Finanzwende-Recherche zufolge sehen 82 Prozent der Deutschen Atomkraft nicht als nachhaltig an.

Um wie viel Geld geht es?

Der Markt für nachhaltige Fonds allein in Deutschland hat nach Angaben des deutschen Fondsverbands im Jahr 2021 ein Volumen von 360 Milliarden Euro überschritten. Die Nachfrage nach nachhaltigen Geldanlagen steigt. Wie viel davon in Atomkraft oder Gas fließen würde, lässt sich nicht sagen. Niemand ist ja gezwungen, nachhaltiges Geld in Atomkraft zu stecken. Aber: Die Kommission untergräbt mit der vorgeschlagenen Einstufung ihr eigenes Ziel. Sie wollte Kapital in nachhaltige Investitionen lenken und Greenwashing eindämmen. Und beides verfehlt sie mit ihrem Vorschlag.

Magdalena Senn, Jahrgang 1992, ist Referentin für nachhaltige Finanzmärkte des Vereins „Bürgerbewegung Finanzwende“.

Wenn sich die Kommission durchsetzt, werden dann demnächst in Frankreich mit grün deklariertem Geld AKWs gebaut und hier Gaskraftwerke?

Ja, das ist durchaus möglich mit privatem Kapital.

Und was ist mit öffentlichen Geldern?

Das ist ein Grund, warum das Thema politisch so hochkocht: Es ist denkbar, dass die Kommission den Nachhaltigkeitsstandard, den sie jetzt schafft, auch für öffentliche Subventionen der Mitgliedstaaten heranzieht und bei der Überarbeitung der europäischen Schulden­regeln zugrunde legt. Weil viele EU-Länder weiter auf Atomkraft und Gas setzen, betrifft der Vorschlag der Kommission nationale Interessen.

Ex­per­t:in­nen sind der Auffassung, dass die Taxonomie eine echte Trendwende an den Kapitalmärkten in Richtung Nachhaltigkeit hätte einleiten können. Ist es damit jetzt vorbei?

Das muss sich zeigen. Aber was Europa eigentlich wollte, einen einheitlichen Standard zu schaffen und international zum Vorbild zu werden für nachhaltige Kapitalmärkte, das dürfte tatsächlich gescheitert sein, wenn Gas und Atom als nachhaltig eingestuft werden.

Wie kann die Einstufung von Atom- und Gasinvestments als grün noch verhindert werden?

Bis 12. Januar dürfen die Mitgliedsstaaten Rückmeldungen zu den Vorschlägen der Kommission geben. Wenn genug Mitgliedsstaaten das kritisch beurteilen, können sie darauf drängen, dass die Kommission ihren Vorschlag ändert. Das erscheint nicht besonders wahrscheinlich, weil die Kommission ja nur vorlegt, was sie für mehrheitsfähig hält. Ist die Frist vorbei, wird die Kommission den Vorschlag formal annehmen. Dann können der Ministerrat oder das Europaparlament nur noch insgesamt widersprechen, aber keine Änderungen mehr vornehmen. Dass das geschieht, ist sehr unwahrscheinlich.

Die Bundesregierung will im Laufe des Januars zum Vorschlag der EU-Kommission Stellung beziehen, Atomkraft und Gas als nachhaltig einzustufen. Das kündigte ein Regierungssprecher in Berlin an. Ob Deutschland wie Österreich gegen die Pläne klagen wird, ließ er offen. Die Grünen wollen über die Bundesregierung und das Europaparlament auf Änderungen an den Plänen drängen, kündigte die Vize-Parteivorsitzende Ricarda Lang am Montag in der ARD an. Die EU-Kommission hatte in der Neujahrsnacht ihren Entwurf zur „Taxonomie“ an die EU-Mitglieder geschickt. Die Taxonomie ist eine Bewertung nachhaltiger Wirtschaftsaktivitäten. (afp)

Was sollte die deutsche Bundesregierung jetzt tun?

Sie sollte sich jetzt in Brüssel starkmachen, dass die Vorschläge der EU-Kommission nicht angenommen werden. Die Grünen haben ja schon recht klar auf den Vorschlag der Kommission reagiert. Ungewiss ist, ob sich die neue Bundesregierung insgesamt zu einer kritischen Rückmeldung zu Atomkraft und Gas nach Brüssel durchringt. Wenn Deutschland daran gelegen ist, Greenwashing zu bekämpfen und für Anlegerinnen und Anleger für mehr Klarheit zu sorgen, dann sollte die Bundesregierung in Brüssel widersprechen.

Die österreichische Regierung will gegen die Einstufung klagen. Bringt das was?

Ja, das ist ein möglicher Weg. Es gibt Gutachten, die sagen, dass der Einbezug von Atomkraft der Rechtsgrundlage der Taxonomie widerspricht, also den Vorgaben von Europaparlament und Rat.

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