Alleinerziehende im Koalitionsvertrag: „Noch kein großer Wurf“

Heidi Thiemann hat die Stiftung All­tags­hel­d:in­nen gegründet. Ein Gespräch über mögliche Verbesserungen für Alleinerziehende durch die Ampel.

Erwachsenen- und Kinderfahrräder.

2,8 Millionen Kinder in Deutschland sind von Armut betroffen, die Hälfte lebt bei Alleinerziehenden Foto: Florian Gaertner/photothek/imago

taz: Frau Thiemann, das Wort „Alleinerziehende“ kommt auf 177 Seiten des Koalitionsvertrags der künftigen Ampel-Regierung fünf Mal vor. Reicht Ihnen das?

Heidi Thiemann: Es kommt zwar fünf Mal vor, aber schon daran, wo das Wort jeweils steht, sehen Sie, dass der Vertrag noch kein großer Wurf ist.

Wo steht es denn?

Mal hier, mal dort. Die Maßnahmen, die Alleinerziehende betreffen, sind keine aufeinander abgestimmten, die auf einer fundierten Bedarfsanalyse für diese Zielgruppe beruhen würden und die eigentlich nötig wäre. Dennoch kann man sagen, dass der Vertrag zumindest einige wichtige neue Verbesserungen bringen kann.

Welche?

Ich bin zum Beispiel erleichtert, dass sich das Wechselmodell nicht als gesetzliches Modell für Trennungsfamilien durchgesetzt hat. Es ist weiter eine Option unter vielen.

Im Vertrag steht doch: „Wir wollen die Trennungs- und Konfliktberatung verbessern und dabei insbesondere das Wechselmodell in den Mittelpunkt stellen.“

Aber das gilt nur für die Beratung. Es ist für Trennungsfälle nicht automatisiert worden. Wir finden die zitierte Passage für die Beratung allerdings erstaunlich. Mich erinnert das ein wenig an die Schwangerschaftskonfliktberatung, die ergebnisoffen sein, die Frau aber zur Fortsetzung der Schwangerschaft ermutigen soll. Beim Wechselmodell scheint es jetzt so zu sein, dass für dieses Modell beraten werden soll, egal wie die familiäre Situation ist. Das scheint mir abstrus.

61, hat in der Entwicklungs­zusammen­arbeit und als Gender­trai­ne­rin gearbeitet und mit „Alltags­hel­d:in­nen“ die erste bun­des­weit aktive Stiftung für Allein­erziehende gegründet. Die Stiftung ist gemeinnützig und setzt sich dafür ein, Gesellschaft so zu gestalten, dass Ein-Eltern-Familien nicht mehr benachteiligt werden.

Auch innerhalb der Beratungen ist zumindest die Orientierung am Kindeswohl ausdrücklich gefordert.

Ja, das ist gut. Man muss zum Wechselmodell vielleicht erklären: Es hört sich ja erst mal wunderbar an. Geteilte Care-Arbeit ist positiv, die Männer, die statistisch immer noch sehr wenig Care-Arbeit machen, kommen auch zu ihren 50 Prozent. Aber das funktioniert eben nur, wenn es vorher auch schon so gelebt wurde. 70 Prozent der Familien leben vor Trennung jedoch das klassische Zuverdienermodell. Das Wechselmodell praktizieren nur 4 Prozent der Trennungsfamilien in Deutschland. Das hängt auch von den Rahmenbedingungen ab.

Welche sind das?

Niedriges Konfliktpotenzial und gute Kommunikation, die die vielen nötigen Absprachen möglich machen. Wohnraum im gleichen Viertel – das grenzt beim derzeitigen Wohnungsmarkt ohnehin an Zauberei. Und doppelte Haushalte mit doppeltem Kinderzimmer können sich auch nur gut situierte Eltern leisten. Es ist realitätsfern, sich die Bedarfe nicht anzuschauen, aber aufs Wechselmodell hin zu beraten. Auf keinen Fall sollte es gegen den Willen der Eltern und Kinder angeordnet werden können.

Ist das Ihre Befürchtung?

Man muss fragen, ob die Beratung auch in den Blick nimmt, wie die Eltern miteinander funktionieren, zum Beispiel, ob auch Gewalt im Spiel ist.

Bei elterlichen Trennungsfällen vor Gericht muss häusliche Gewalt künftig „zwingend“ berücksichtigt werden. Reicht Ihnen das nicht?

Das finde ich sehr gut. Bisher haben Berichte, unter anderem des Familienministeriums, gezeigt, dass in Umgangsverfahren häufig das Umgangsrecht über den Gewaltschutz gestellt wurde. Wir hoffen, dass das nun ein Ende hat. Wir machen uns zwar ein bisschen Sorgen, dass das Justizministerium FDP-geführt sein wird, aber wir interpretieren „zwingend berücksichtigt“ erst mal so, dass der Gewaltschutz Vorrang hat. Der Gewaltbegriff müsste allerdings analog der Istanbul-Konvention des Europarats weiter gefasst werden als bisher und auch psychische und finanzielle Gewalt einbeziehen.

Im Koalitionsvertrag heißt es auch, dass Alleinerziehende eine Steuergutschrift bekommen sollen, die Höhe ist unklar. Trotzdem gut?

Das Gute ist, dass es sie geben soll. Die Hälfe der alleinerziehenden Mütter verfügt mit ihren Kindern allerdings monatlich über weniger als 1.700 Euro netto. Es ist also zweifelhaft, ob gerade bei dieser Gruppe, die von der Steuergutschrift profitieren soll, überhaupt so viel zu besteuern ist. Das eigentliche Problem ist, dass das ungerechte Steuersystem nicht abgeschafft wurde.

Das wäre Ihre Forderung gewesen?

Unsere Forderung ist ein familiengerechtes Steuergesetz, das alle Familienmodelle berücksichtigt. Die Überführung der Kombination der Steuerklassen III und IV in Klasse IV bringt zwar positive Aspekte. Gerade in der Pandemie ist das sehr wichtig, weil Leistungen wie Kurzarbeitergeld vom Nettogehalt aus berechnet werden und viele Frauen sehr niedrige Nettogehälter haben. Die werden künftig etwas mehr Geld auf ihrem Gehaltszettel sehen.

Aber?

Das ist kein Ausgleich dafür, dass das Ehegattensplitting nicht abgeschafft wurde. Dieses Modell der Ungleichheit hat gesund und munter die Koalitionsverhandlungen überlebt und spült Paaren ohne Kind mit hohem Einkommensunterschied sehr viel mehr Geld in die Kasse als Alleinerziehenden mit Kindern. Die Chance, das gerechter zu gestalten, wurde vertan.

Sind Ihnen die Pläne für die Kindergrundsicherung konkret genug, die aus einem einkommens­unabhängigen Garantiebetrag und einem vom Elterneinkommen abhängigen Zusatzbetrag bestehen soll?

Wir finden gut, dass sie kommen soll. Jedes fünfte Kind – rund 2,8 Millionen Kinder in Deutschland – ist von Armut betroffen. Etwa die Hälfte lebt bei Alleinerziehenden. Dennoch kommt es auch hier auf die Höhe an, zu der noch nichts gesagt wurde. Zudem muss sie unbedingt eine eigenständige Leistung sein und nicht auf Hartz IV und den Unterhaltsvorschuss angerechnet werden. Unterm Strich dürfen Menschen nicht weniger, sondern sollten deutlich mehr bekommen als jetzt. Eine Kürzung darf nicht passieren, das wäre das Schlimmste. Ich würde außerdem gern noch etwas zum Umgangsmehrbedarf sagen.

Sie meinen, mehr Geld für ­getrennt lebende Eltern, die Hartz IV beziehen. Das kommt im Koali­tionsvertrag doch gar nicht vor.

Das ist das Problem. Es ist eine langjährige Forderung der Sozialverbände. Wenn der zweite Elternteil einen größeren, aber nicht gleichwertigen Betreuungsanteil hat, dann hat der zweite Elternteil auch Aufwendungen. Momentan ist das etwas für Gutverdienende. Wenn beide Elternteile Hartz IV bekommen, sind Fahrtkosten oder gemeinsame Unternehmungen mit den jetzigen Sätzen nicht finanzierbar. Damit wird soziale Ungleichheit festgeschrieben. Auch die Anerkennung von Care-Arbeit bei den Rentenansprüchen beziehungsweise der Altersarmut von Frauen spielt keine Rolle im Koalitionsvertrag. Und letztlich klafft eine Leerstelle beim Wohnen mit Blick auf Alleinerziehende.

Jährlich sollen 100.000 neue Sozialwohnungen kommen.

Ja, das ist auch gut, aber dabei wäre sehr wichtig, auch Wohnbedarfe für Ein-Eltern-Familien aufzugreifen, die konzeptionell gegenseitige Unterstützung mitdenken und gemeinschaftlich organisiertes Wohnen ermöglichen. Das wäre eine enorme Steigerung von Lebensqualität.

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