Kunstform Musikalbum: Das Album lebt

Das Album ist viel mehr als Musik. Es verbindet Songs und Inszenierung. Und es ist auch vom Streaming der Songs nicht totzukriegen.

Junge Frau mit Kopfhörern und Nasen-Mund-Schutz hört mit geschlossenen Augen Musik

In Zeiten der Pandemie ist Musikhören noch öfter ein allein erlebtes Vergnügen Foto: Gerardo Vieyra/NurPhoto/getty images

Dieses Jahr flogen erstmals prominente Zivilpersonen ins All. Was das mit dem Album als wichtigstem Format von Popmusik zu tun hat? Das Album ist ein Produkt des Space Age, des Raumfahrtzeitalters, das begann, als die Rüstungsindustrie nach Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 teilweise in Zivilwirtschaft überführt wurde. Plötzlich war Vinyl kein kriegswichtiges Material mehr, und die Geräte zur Feindaufklärung konnten auch zur Produktion von rührseligen Songs verwendet werden.

Nachdem die Flegeljahre des Pop in den 1950ern von 7-Zoll-Singles geprägt waren, die die Halbstarken-Gefühlswelt in zweieinhalb Minuten zusammenfassten, begann die Musikindustrie seit den 1960ern, ihre Stars mit 12-Zoll-Langspielplatten, Alben, zu bewerben. In der Musik wurde oftmals die Zukunft besungen und auf den Covers in klebrigen Science-Fiction-Träumen anschaulich illustriert. Zunächst bestanden Alben aus lieblos gekoppelten Songs, einigen Hits und vielen Nieten.

Mit dem Aufkommen der Hippiekultur entwickelte sich gegen Ende der 1960er das Album als gängige Form der Promotion. Fotos, Linernotes, Songtexte wurden mit abgedruckt. Popmusik bekam eine synästhetische Note. Auf einem Album ließen sich zusammenhängende Geschichten erzählen. Ein Weltkulturerbe, das viel zu wenig gewürdigt wird. Beweis ist die Überwältigungstaktik des Konzeptalbums „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“ der Beatles.

Die Songs sind längst im kollektiven Popgedächtnis eingebrannt. Wir assoziieren damit automatisch das Wachsfigurenkabinett und die Fotocollage auf dem Cover. Trotz Ölkrise, sinkender Absatzzahlen und trotz des Formatwechsels von LP auf CD blieb das Album bis Ende der 1990er die lukrativste Vermarktungsquelle. Erst die Digitalisierung änderte dies und beschleunigte eine Fragmentarisierung und Zerstückelung von Popmusik. Tourneen und Konzerte wurden in der Folge wichtige Absatzquellen.

Corona hat diese Entwicklung unterbrochen. Selbst heute, wo das Streaming von Songs kommerzielle Gewinne abwirft, wird dies auch durch das Abspielen vollständiger Alben erzielt. Die freie Verfügbarkeit von Millionen Songs im Netz, ja selbst die Mikropromotion von Snippets, markanten Ausschnitten, die auf Plattformen wie Tiktok stattfindet, hat dem Album als Kunstform kaum etwas anhaben können.

Im Gegenteil, ein Retrovinylboom treibt die seltsamsten Blüten und wird seit Längerem inszeniert wie Bausparverträge. Musik ist mehr als nur Vermarktung, sie ist ein Massenmedium, das weiterhin zur Verständigung beiträgt. Und das Album – nach wie vor die engste Verbindung von Songs, Inszenierung und Crosskulturalisierung – es lebt.

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Julian Weber, geboren 1967 in Schweinfurt/Bayern, hat Amerikanische Kulturgeschichte, Amerikanische Literaturwissenschaft und Soziologie in München studiert und arbeitet nach Stationen in Zürich und Hamburg seit 2009 als Musikredakteur im Kulturressort der taz

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