Die Ampel steht, Große Koalition geht in Rente

Die Verhandler von SPD, Grünen und FDP haben sich auf eine Koalition geeinigt. Die Vorhaben sind ambitioniert, an einigen Stellen treten die Parteien aber auch auf der Stelle. Manche Personalie bleibt ungeklärt

Ende einer Ära am Berliner Westhafen: Mit der rot-grün-gelben Koalition enden lange Jahre der CDU-Dominanz Foto: Kay Nietfeld/dpa

Aus Berlin Sabine am Orde
und Ulrich Schulte

Ganz staatsmännisch beginnt Olaf Scholz mit Corona. Erst nachdem der kommende Kanzler betont hat, wie ernst die Lage ist und Maßnahmen der Ampel aufgezählt hat, kommt er zum eigentlichen Sinn dieser Pressekonferenz. „Meine wichtigste Botschaft dazu lautet: Die Ampel steht.“ SPD, Grüne und FDP eine der Wille, das Land besser zu machen. Ihnen gehe es nicht um eine Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners. „Wir wollen mehr Fortschritt wagen.“

Neben Scholz stehen auf der Bühne im Berliner Westhafen-Center, einer ehemaligen Lagerhalle, die anderen Chefverhandler der Ampel: Annalena Baer­bock, Robert Habeck, Christian Lindner und die beiden SPD-Vorsitzenden. Stolz präsentieren sie gemeinsam einen 177 Seiten starken Koalitionsvertrag, die Inhalte also, die die neue Regierung ausmachen sollen.

All dies ist durchaus ein großer Wurf. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik arbeiten SPD, Grüne und FDP in einer Bundesregierung zusammen, und sie verweisen die Union nach 16 Jahren in die Opposition. Seit gut einem Monat haben über 300 PolitikerInnen von SPD, Grünen und FDP über Hunderte Themen verhandelt – und kaum etwas ist nach außen gedrungen. Diese professionelle Vertraulichkeit wird von allen Seiten gelobt. Am Mittwoch bedankten sich die Verhandler überschwänglich dafür.

Inhaltlich wird die Ampel Deutschland in entscheidenden Bereichen modernisieren, in anderen aber droht Stillstand. Ein Beispiel für zu erwartenden Fortschritt ist der Klimaschutz: Er werde sich als Querschnittsthema durch alle Bereiche ziehen, versprechen die Grünen – von Verkehr über Industrie, Bauen und Wohnen hin zur Landwirtschaft und der Außenpolitik.

In der Tat sind manche Vorhaben ambitioniert. So verspricht die Koalition etwa, dass der Anteil der erneuerbaren Energien am deutschen Verbrauch 2030 bei 80 Prozent liegen soll. Dafür wird eine Solarpflicht auf Dächern eingeführt und vorgeschrieben, dass 2 Prozent der deutschen Landfläche für Windräder zur Verfügung stehen. „Wir sind auf dem 1,5-Grad-Pfad mit diesem Koalitionsvertrag“, verspricht Robert Habeck.

Das wird von Umweltverbänden penibel nachgerechnet werden – und es gibt auch Punkte, die daran zweifeln lassen. So wird der CO2-Preis nicht erhöht, den die Grünen im Wahlkampf noch als zentrales Instrument priesen. Scholz lässt angesichts hysterischer Spritpreis-Debatten nichts anbrennen.

SPD

Neben dem Kanzleramt soll die SPD Verantwortung für die Ministerien für Inneres, Verteidigung, Gesundheit, Arbeit und Soziales, wirtschaftliche Zusammenarbeit sowie das neu geschaffene Ministerium für Bauen und Wohnen übernehmen.

Bündnis 90/Die Grünen

Die Grünen sollen den Vizekanzler stellen. Auch das Auswärtige Amt sowie die Ministerien für Wirtschaft und Klimaschutz, Umwelt und Verbraucherschutz, Familie sowie Ernährung und Landwirtschaft sollen die Grünen erhalten.

FDP

Die Freien Demokraten bekommen vier Ministerien: Bildung und Forschung, Finanzen, Justiz sowie Verkehr und Digitales. (taz)

Auch sozialpolitisch tut sich einiges: Die SPD hat die Einführung eines Mindestlohns von 12 Euro durchgesetzt, es gibt einen langsamen Einstieg in eine Kindergrundsicherung und weniger Sanktionen bei Hartz IV, das in Bürgergeld umbenannt wird. Anderswo tritt die Koalition auf der Stelle. Es wird keine Regelsatzerhöhung für Hartz-IV-Empfänger geben. Steuererhöhungen für Wohlhabende fallen aufgrund des Widerstands der FDP aus.

Entscheidend für die Machtbalance in der Ampel ist die Verteilung der Ministerien. Hier kann die FDP einen großen Erfolg verbuchen. Sie wird den Finanzminister stellen, es ist so gut wie sicher, dass Christian Lindner diesen Job selbst übernimmt. Die Finanzpolitik ist entscheidend für den künftigen Kurs der Ampel. Auch Grünen-Chef Robert Habeck hatte mit dem Amt geliebäugelt, angesichts des Drängens der FDP aber nachgegeben.

Bei den Grünen wird dies nicht als Niederlage gesehen. Die Verhandlungen seien in der Finanzpolitik am schwierigsten gewesen, heißt es in Parteikreisen. „Die Linien unterscheiden sich fundamental.“ Angesichts dessen sei das Finanzministerium ein „blockiertes Haus“, der neue Minister werde nicht wirklich gestalten können.

Das Gesundheitsministerium geht, anders als von manchen vermutet, an die SPD. Aber wird Karl Lauterbach Minister? Dazu wollte sich Scholz nicht äußern. Der Mediziner und Universitätsprofessor, der nachts virologische Studien aus den USA liest und sie allgemeinverständlich erklären kann, hätte nicht nur die Expertise für den Job, sondern auch große Lust. Aber in der SPD halten viele Lauterbach für einen exotischen Selbstdarsteller – und für wenig ministrabel. Außerdem übernehmen die Sozialdemokraten das wichtige Innenministerium, das Verteidigungsministerium und ihr Herzblutressort Arbeit und Soziales.

Die Grünen konzentrieren sich in der neuen Regierung auf ökologische Themen. Sie bekommen das Auswärtige Amt, ein großes Klimaschutz- und Wirtschaftsministerium und die Ressorts Umwelt, Verbraucherschutz und Landwirtschaft.

„Olaf Scholz wird ein starker Bundeskanzler der Bundesrepublik sein“

Christian Lindner, FDP-Chef und wohl künftiger Finanzminister

Es gilt als sicher, dass Annalena Baer­bock Außenministerin wird – und Robert Habeck das Klimaschutzressort übernimmt. Ob die Regierung im laufenden Geschäft engagierten Klimaschutz vorantreibt, ist eine offene Fragen. Die SPD wird ein neu geschaffenes Bauministerium übernehmen, die FDP das Verkehrsministerium. Beide Bereiche sind zentral für das Erreichen des Pariser Klimaschutzziels – und weder SPD noch FDP sind in diesen Themen bisher mit ökologisch weitreichenden Plänen aufgefallen.

Die Namen der neuen MinisterInnen werden erst später bekannt ­gegeben. Die SPD will ihre Kabinettsmitglieder erst am 4. Dezember ­vorstellen. Die Grünen machen das schon am heutigen Donnerstag, weil dann ihre zehntägige Urabstimmung über den Koalitionsvertrag beginnt. Die gut 125.000 Mitglieder sollen über das ­Gesamtpaket abstimmen. Bei SPD und FDP segnen Sonderparteitage den ­Koalitionsvertrag ab. Der neue ­Kanzler Olaf Scholz könnte in der Woche ab dem 6. Dezember gewählt werden.

Das größte Lob für Scholz kommt, man höre und staune, an diesem Tag von Christian Lindner. Der Freidemokrat zitiert den Sozialdemokraten Egon Bahr. Scholz verfüge über ein „inneres Geländer“, um das Land mit einer klaren Wertehaltung zu führen und mehr Menschen zu repräsentieren als die, die rot, gelb und grün gewählt hätten, sagt Lindner. „Deshalb wird Olaf Scholz ein starker Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland sein.“ Dann applaudieren sich die VerhandlerInnen, die in den ersten Reihen sitzen, gegenseitig zu.