Interview mit einem Ritter: „Wir haben die Hölle auf Erden“

Michael Marek suchte die Freiheit erst als Rocker. Vergebens. Dann wurde er Ritter.

»Für mich kommt erst die Mutter Erde, dann die Tiere und dann das Arschloch Mensch.« Blick in die Bar auf dem Ritter-Anwesen Foto: Benjakon

Michael Marek wurde 2001 nach zehnjähriger Knappschaft zum Ritter geschlagen, 2013 legte er den Grundstein für das Anwesen der Gralsfamilie in Dahlewitz bei Berlin. Im Dorf ist er beliebt und bringt Kindern Bogenschießen, Fechten, Seilziehen und Hufeisenwerfen bei. Alle sind auf seinem Rittergut willkommen, sofern sie oder er sich sittlich, moralisch und anständig benimmt. Wie wir von taz FUTURZWEI. Dann öffnet der Ritter seine Gedankenwelt und das Innere seines Hauses. Albrecht Dürers »Betende Hände«, eine Figurengruppe der Tafelrunde um König Artus, zahllose Jesusfiguren und mindestens zwei Dutzend Teelichter umgeben ihn und zeigen, woran er glaubt. Neben der Altarecke steht eine Hantelbank und in einer Scheune befindet sich ein gut ausgestattetes Karate Dōjō. Zum Interview serviert Ritter Michael Caro-Kaffee, allerlei Trockenfrüchte und süßen, roten Krimskoye. Bald schon herrscht entgegen der Sitte ein trauliches Du.

taz FUTURZWEI: Michael, du warst früher Rocker, bevor du Ritter wurdest. Diese Tattoos an deinen Unterarmen, sind das Spuren deiner Vergangenheit?

Der Mann: lebt als Ritter mit seiner Gralsfamilie in dem Dorf Dahlewitz, südlich von Berlin. 67 Jahre, aufgewachsen in Berlin-Kreuzberg, im alten Leben Autolackierer, Diskothekenpächter und Rocker bei »Kettenhunde«, später »Phoenix MC«

Wie man Ritter wird: Ritter ist kein geschützter Begriff oder Beruf. Aber wer in der MittelalterszeneRitter werden will, muss sich zuerst als Knappe ausbilden lassen und bewähren. Bei Marek waren das zehn Jahre. Wer sich danach bereit fühlt, zieht ein weißes Büßergewand an und muss zwölf Stunden in einer Kapelle überlegen, ob er wirklich als Ritter Verantwortung übernehmen kann. Mareks Prüfungszeit ging von 18 Uhr bis 6 Uhr morgens, sechs Stunden im alten Tag und sechs im neuen. Er musste dabei auf einer 80 mal 80 Zentimeter großen Matte vor einem Altar mit Weihrauchstäbchen knien, durfte nicht essen, nicht trinken und nicht schlafen, niemals die Matte verlassen. Auch nicht aufs Klo. Um 6 Uhr morgens wurde der Prüfling abgeholt. Dann musste er zur Waschung. Er bekam nun ein rotes Gewand, wodurch alle sahen, dass Marek seine Nachtwache hinter sich hatte. Weitere sechs Stunden später zog er seine Rittergewandung an, wurde zum Ritter geschlagen und durfte sein erstes Turnier reiten.

Michael Marek: Klar. Ich bin noch mit einem Kugelschreiber und zwei Nähnadeln tätowiert worden. Nicht wie heute mit Maschine und Betäubung. Früher waren ausschließlich Rocker, See- und Zimmermänner tätowiert; heute ist es eine Modeerscheinung. Ich wünschte mir, ich wäre nicht tätowiert.

Was macht ein tätowierter Ritter im Jahr 2021?

Ein Ritter gelobt ewige Tapferkeit, sein Herz kennt nur Tugend, sein Geist sucht nach Weisheit, sein Schwert verteidigt Hilflose, seine Macht unterstützt Schwache, sein Mund sagt nur die Wahrheit und sein Zorn zerschlägt das Böse.

Klingt anstrengend und danach, als gäbe es im Moment viel zu tun. Wie beschreibst du unsere Gegenwart?

Wir haben die Hölle auf Erden. Die Erde kann nichts dafür. Aber der Mensch. Durch sein Verhalten, das nicht im Einklang mit der Natur steht. Und er verbraucht immer mehr Material. Die Schöpfung wird nicht geachtet, die Tiere auch nicht. Und es gibt Krieg. Jeder will besser sein als der andere. Wenn man sieht, was global passiert, dann braucht man keine Angst zu haben, dass man in die Hölle kommt, da wird man feststellen, dass man bereits in der Hölle ist.

Kann man Widerstand leisten? Was kann man anders machen als die anderen?

Menschen sollten Mut haben, miese Zustände zu erkennen und zu sagen, was sie fühlen. Man kann entweder weiter mitmachen oder aussteigen. Es gibt ein Sprichwort, das besagt, dass man, um an die Quellen zu kommen, gegen den Strom schwimmen muss. Die Lachse zum Beispiel schwimmen flussaufwärts.

Bist du ein Flussaufwärtsschwimmer oder siehst du dich als Aussteiger?

Nein, ich bin kein Aussteiger, denn ich lebe ja in dieser Gesellschaft. Ich möchte Auto fahren, dazu brauche ich Benzin. Sonntags gehe ich in die Sauna oder Cocktails trinken. Ich nutze die Strukturen, aber ich versuche, Maß zu halten. Nicht immer mehr, mehr, mehr. Wenn du meine Wohnung anschaust, vieles hab ich von der Straße oder von Menschen, die es weggeworfen haben. Einfachheit macht mich glücklich. Ich hab das Glück, einigermaßen frei zu sein, besonders durch das Rittergut und meine Gralsfamilie. Hier kann ich alles machen, hier kann ich mich entfalten und in mir meine Freiheit finden.

Die Befreiung vom Dauerrauschkonsumzwang war dein Weg?

Früher habe ich auch gedacht: Cartier, Rolex, DuPont, da biste toll, da kriegst du viele Frauen. Aber das ist nur Ablenkung. Wir erkennen uns nicht, weil wir uns vom Mammon, der Matrix, fangen lassen. Wenn du so und so aussiehst, bist du ein toller Mann. Wenn du so und so aussiehst, bist du eine tolle Frau: Brüste, Lippen, Arsch, alles wird gemacht. Alle staffieren sich aus, keiner ist mehr mit seiner eigenen Natur zufrieden, so wie er ist.

Also bin auch ich nie schön genug?

Genau, Dana. Das System will, dass sich niemand selbst erkennt. Niemand soll die eigene Kraft spüren, die man braucht, um etwas an den Verhältnissen zu verändern. Das wird durch Konsum unterdrückt. Unser Verhalten gerade zeugt von Dekadenz, Übermut und Überheblichkeit. Für mich kommt erst die Mutter Erde, dann die Tiere und erst dann das Arschloch Mensch.

Wie finanzierst du dein Leben in Freiheit?

Ich bin jetzt Rentner. Zuvor war ich Autolackierer. Ich war auch Kraftfahrer und Fensterputzer. Weil ich – wie soll ich sagen? – die Welt erforschen wollte. Das Wollen ist wichtig, nicht das Müssen. Niemand muss irgendwas. Sonst entsteht Druck und Zwang. Aber wenn ich etwas möchte, dann entsteht alles frei. So ist – neben dem Konsum – auch eines der großen Probleme, dass wir in einer Monotonie gefangen sind: einkaufen, essen, arbeiten, fernsehen, einkaufen, essen, arbeiten, fernsehen ... Freiheit und Kreativität kann da nicht entstehen. Als Fensterputzer sah ich durch die Scheiben in das Leben anderer Leute. Was da los ist! Nur Tristesse.

»Das System will, dass sich niemand selbst erkennt.« Foto: Benjakon

Warum erkennst du das und die anderen sehen es nicht?

Dana, was ich sage, ist nichts Dolles. Das kann jeder sehen, wenn er die Augen aufmacht. Ich bin ein Mensch, der wenig denkt. Weil Denken kaputt macht. Wenn ich überlege, passiert genau das. Und das, was passieren soll, kann nicht passieren. Ich denke es kaputt. »Zerdenken« nenne ich das. Ja, ich weiß, jeder denkt, ich denke nur. Aber ich bin einfach nur. Wenn ich jetzt in dieser Unterhaltung denken würde, könnte ich gar nicht fließend mit dir sprechen, weil ich dann denke: »Dieser Dana will ich was erzählen.« Aber ich bin eine sprudelnde Quelle, das, was ich in mir drin hab, kommt einfach raus.

Dann sprudel mir doch mal zu, was die gegenwärtigen Verhältnisse mit uns als Gemeinschaft machen? Hier liegt das Gemeindejournal von Dahlewitz auf dem Tisch. Du interessierst dich also für deine soziale Mitwelt?

Ich lese und schaue, wer was macht. Da sehe ich erst einmal nur Werbung. Dann irgendeinen Bürgermeister, der was anpreisen will: »Mehr Raum für Fantasie.« Ha! Das wäre schön. Das meiste ist jedoch mit zwei Aufforderungen verbunden: Baut! oder Kauft! Was denkst du denn, wie diese Idylle in zehn Jahren aussehen wird? Nebenan entsteht ein Wohnpark, da hinten ein Gewerbegebiet. Immer mehr Natur wird versiegelt. Irgendwann ist der globale Ballon, ein eckiger Betonklotz. Auch wenn wir noch weitere 40 Milliarden Kilometer im Weltraum rumschwirren, so einen Ballon finden wir nie wieder. Es gibt nur diesen und wir hausen hier, wir rotten ihn runter.

Kann man unseren globalen Ballon nicht wieder flicken?

Du und ich,wir beide sind uns doch einig, dass das, was über Jahrhunderte falschgelaufen ist, nicht von heute auf morgen repariert werden kann. Auch weil es ein Leidensweg werden würde. Deshalb schaffen auch nur sehr wenige ihren Drogenentzug. Ich hab Kokain genommen und schon als kleiner Junge Pattex-Verdünner geschnüffelt. Irgendwann hab ich festgestellt, dass der Zug abgefahren ist. Ich wollte mich verändern. Ich dachte, wenn ich das erkenne, schwuppdiwupp, ist alles wieder gut. Aber so geht das nicht. Den falschen Weg, den ich gegangen bin, den muss ich zurückzugehen, quasi als Buße. Und erst dann kann ich neu anfangen.

Wie kann man sich Kokain-Sucht vorstellen?

Schau mich an! So bin ich völlig normal, alles läuft, ich bin gut. Jetzt nehme ich Kokain und bekomme gute Gedanken und Inspiration und das dauerhaft. Ich bin am Ball. Peng! Bam! Bum! Ich kann alles ohne Ende. Ich erscheine wie eine Sonne. Doch irgendwann, wenn ich es nicht mehr nehme, falle ich weit hinter die Anfänge zurück. Genau das ist das Problem. Ich nehme Energie in Anspruch, die eigentlich erst später zur Verfügung stehen würde. Was vor mir liegt, schöpfe ich jetzt ab. Höre ich auf, ist die Energie weg. Alles auf Pump gewesen.

Was von deiner Energie gibst du als Ritter der Gemeinschaft zurück?

Ich gebe meine Liebe zur Mutter Erde. Ich hab verstanden, wie viel ich von ihr bekomme. Also bin ich gut zu ihr. Zum Beispiel brennen hier viele Teelichter. Am Ende recycle ich übrig gebliebenen Wachs und der Metall-Stöpsel in der Mitte kommt extra. Mit dem Wachs ziehe ich gemeinsam mit Kindern neue Kerzen, damit sie mal sehen, was das für eine schwierige Arbeit ist.

Dann ist das ein offenes Rittergut?

Foto: Benjakon

Na logo, wir laden eine Menge Leute ein, hierher kommt viel Besuch. Sonst hätte mir ja die Schöpfung dieses Grundstück nicht gegeben. Jeder staunt über den Frieden hier. Das ist pure Energie und Liebe, das ist selbst geschaffen, vorher war hier Müll. Ich quatsche nicht nur, ich handele. Ich übernehme Verantwortung. Ja, da muss man auch mal in die Scheiße fassen, aber das ist auch nicht schlimm.

Foto: Benjakon

Gibt es viel zu tun?

Na klar, das Rittergut ist wie ne kleine Firma. »Kannste mal ein paar Teile holen? Kannste mal kommen?« Da, wo ich gebraucht werde, bin ich dann auch. Ich nehme nichts dafür. Ich empfange ja auch. Und ich habe. Das ist doch schön, wenn ich etwas abgeben kann.

Dein Leben war nicht immer so friedlich. Du warst oft im Gefängnis, stimmts?

Acht Jahre. Meine Mama stammt aus dem Osten. Sie hat viel gearbeitet damals. Als 1961 die Mauer gebaut wurde, hat sie mich an ihre Schwester gegeben, die im Westen wohnte. Da war ich sechs. Meine Tante und mein Onkel waren notorische Wochenendalkoholiker. Nachts hat er sie verprügelt und die ganze Einrichtung zerstört. Ich bin stets ohne Essen und mit kaputten Hosen in die Schule. Und wurde gehänselt. Als ich zehn war, hab ich selbst mit dem Saufen angefangen. Meine Kumpels und ich haben Underberg bei Aldi geklaut, Pattex-Verdünner geschnüffelt und sind nicht mehr zur Schule gegangen.

Sondern?

Wir haben Leute verprügelt und eine Fahrradgang gegründet, wir nannten uns die »Kettenhunde«. Eigentlich haben wir nur Remmidemmi gemacht. So bin ich später auch in diese Rockerszene der Gruppe »Phoenix« gekommen, das sind die heutigen »Hells Angels«.

Da musst du also 18 gewesen sein, sonst hättest du doch nicht fahren dürfen?

Dana! Hör mal, wie naiv bist du? Ich bin einfach gefahren. Und es sind schlimme Sachen passiert. Ein Kumpel hatte ein Auto, wir sind aus Richtung Axel-Springer-Gebäude gekommen und ich sagte: »Ich fahre!«

»Ich bin schön mit Vollgas rein in den U-Bahn-Eingang. Den anderen ist nichts passiert, aber mir wurde das halbe Gesicht zerstört. Ein halbes Jahr später hab ich besoffen ne Oma totgefahren.« Michael Marek

Das war also in Kreuzberg?

Ja, und da bin ich schön mit Vollgas auf den Moritzplatz und rein in den U-Bahn-Eingang. Dessen Gitter hat uns wie ne Mundharmonika aufgefangen. Den anderen ist nichts passiert. Aber mir wurde das halbe Gesicht zerstört. Wurde aber gut zusammengenäht. Ein halbes Jahr später bin ich besoffen Motorrad gefahren und hab ne Oma totgefahren.

Dafür warst du im Gefängnis?

Ja, fünf Jahre am Stück. Aber auch vorher schon wegen Prügeleien und auch unerlaubten Waffenbesitz. Die ganze Palette eben. Aber ein Segelboot ohne Mast ist wie ein Berliner ohne Knast. Wenn du Rocker warst, gehörte das dazu. Wenn du nicht im Knast warst, fragten die anderen: Was bist du denn für ein Brühpuller?

Hat dich das Wegsperren, die Unfreiheit geläutert?

Du darfst nicht vergessen, dass die Welt im Knast genauso ist wie draußen, nur kleiner. Da wird genauso gedealt, rumgemacht, geprügelt und Geldgeschäfte werden abgewickelt. Die Zeit geht draußen allerdings schneller. Nee, für mich war Knast die Freiheit. Das ist ja das Komische: nicht so zu sein, wie der Rest der Gesellschaft, das war meine Freiheit.

Foto: Benjakon

Was heißt das in diesem Fall?

Eben nicht der normale Kaufen-Arbeiten-Kaufen-Trott. Aber das Entscheidende war nicht das Eingesperrtsein, sondern das Sitzen im wahrsten Sinne des Wortes. Wenn Du nämlich richtig sitzt und dir Gedanken machst, so wie die Zen-Leute, passiert auch etwas mit Dir. Auch hier in meiner Bude würden sich andere Leute eher eingesperrt fühlen. Ich hab davor keine Angst, im Knast war auch alles eng. Das Große liegt mir nicht. Das Kleine gibt mir Geborgenheit. Ich mag das Romantische, wie in einer Burg. Meine Fenster waren mal zugemauert. Durfte ich aber nicht, sonst wäre das nicht als Wohnraum durchgegangen.

Was ist beim Einsitzen mit dir passiert?

Ich hatte Glück in meinem Leben, dass ich immer die Möglichkeit hatte, irgendwas wieder reparieren zu können. Da hatte ich noch meine erste Freundin, die Marina, bei der konnte ich wohnen und sie hat mir wieder auf die Beine geholfen. Sie hat die ganze Zeit durchgehalten. Nach dem Knast hab ich dann auf Familienleben gemacht und mich integriert. Doch später wurde ich rückfällig und bin wieder zu »Phoenix«.

»Das Ganze dauerte vier Jahre, davon zwei auf Speed, zwei auf Kokain. Dazu täglich drei Flaschen Tequila und eine Currywurst.« Michael Marek

Warum bist du zurück?

Ich schwöre, nur aus dem Grund, weil ich dachte, ich könne die verändern. Irgendwann hab ich ne Bikerdisco am Kudamm aufgemacht. War immer voll. Doch es ging bei mir wieder los mit saufen und Drogen. Das Ganze dauerte weitere vier Jahre, davon zwei auf Speed, zwei auf Kokain. Ich habe wochenlang nicht geschlafen, dazu täglich drei Flaschen Tequila und eine Currywurst. In diesem Moment, als es mir so schlecht ging, hab ich Jesus gesehen und eine große Eieruhr. Das hieß: »Wie willst du weitermachen?« Zwei Möglichkeiten: Entweder Rocker forever gegen die Gesellschaft oder zurück in die Gesellschaft. Ich verspreche dir, Dana, wäre das so weitergegangen, wäre ich am Bahnhof Zoo gelandet und hätte mich in den Po bumsen lassen müssen, um meine Drogen zu holen. Es geht immer weiter bergab oder du wirst zum Mensch, sagte ich mir.

Und?

Dann hab ich eindreiviertel Jahr den Entzug durchgezogen. Aus Panik hab ich meine Wohnung vernagelt wie Dracula, da durfte kein Lichtschein rein. Ich begann, mich für das Mittelalter zu interessieren. Und ich musste wieder den gesellschaftlichen Umgang erlernen. Wie bei Jesus, es war für mich eine Auferstehung.

Hast du Kinder?

Ja, eine Tochter, Angela, sie ist 30.

Mit Marina?

Nein, mit der hab ich einen Sohn. Das war so: Marina hat mir das Kind im Gefängnis während des Freigangs angesetzt. Ist doch klar, du willst Sex machen, wenn du Freigang hast. Sie dachte, mit Kind werde ich ruhiger. Besser wäre gewesen, man hätte mal drüber gesprochen. Aber dann hatte ich eine neue Freundin, die Susanne, die hatte von einem anderen ein Kind: Angela. Und dann kam mir die Eingebung, dass ich mich um dieses Kind zu kümmern hab. Susanne war nämlich auch eine Alkoholikerin, und Angela sollte nicht das durchmachen, was ich erlebt hab.

Was ist aus deiner Mutter geworden, die dich weggegeben hat?

Ich treffe meine Mama wieder. Es war nicht einfach für sie. Ich helfe ihr und ich mag sie auch, aber es ist leider keine typische Mutter-Sohn-Beziehung. Ich glaube, deswegen bin ich auch eine Art Wanderprediger geworden. Weil ich keine Familie habe, habe ich die Gralsfamilie gegründet. Meine eigene Ersatzfamilie.

»Als Fensterputzer sah ich in das Leben anderer Leute.« Ritter Michael mit Dame Rosario im Wohnzimmer der Gralsfamilie Foto: Benjakon

Waren die Fahrrad- und Rockergangs auch schon Ersatzfamilien?

Ja, auch das Rockerleben war wie in einer Familie. 20 bis 30 Leute, alle von der Straße. Und alle wollten nicht so werden wie ihre Eltern. Ich wurde sogar Vizepräsident, ich hätte da etwas verändern können. Denn ich hatte die Erkenntnis, dass man nicht gegen die Gesellschaft sein muss, man sollte anders sein und der Gesellschaft zeigen, dass es auch anders geht. Ist schiefgelaufen, tja, Alkohol und Drogen. Dein gutes Potenzial wird ausgelöscht, es wird ausgetauscht durch den negativen Umgang. Die Umgebung formt den Menschen. Ich hab mich vom Club getrennt. Aber weißt du, Dana, was der Unterschied zwischen damals und heute ist?

Nein.

Wir wollten keine Geschäfte machen. Wir wollten nur zusammen sein und Party haben. Und die heutigen Gangs sind kriminelle Organisationen. Das echte und wahre Rockerleben gibt es nicht mehr. Der damalige Rocker war gegen das Establishment. Und er war gegen Kapitalismus. Heute sind die Rocker selbst Großkapitalisten. Als ich das schnallte, bin ich raus und hab mich für das Mittelalter entschieden. Als Rockergang hast du ein Wappen, und im Mittelalter kannst du dir auch ein Wappen aussuchen. Passte also.

Wie bist du drauf gekommen, dass du Ritter werden könntest?

Auf einem Mittelaltermarkt hab ich Ritter de Fisch kennengelernt. Hab dem gesagt, dass ich Ritter werden will. Da sagt der, dass ich dann erst Knappe zu sein hab. Sag ich: Mach ich! Ich bin ihm zwei Jahre gefolgt, hab viel über Gott, die Bibel und die Welt gelernt. Ich wollte aber ein Ritter werden, der richtig reitet. Also bin ich zum nächsten Ritter, bei dem ich Fechten, Bogenschießen und Reiten lernte. Mit dem bin ich bis nach Frankreich durch die Lande getingelt. Bei dem war ich dreieinhalb Jahre. Der hat mir beim Fechten 14 Zähne mit dem Schwert ausgeschlagen und den Unterkiefer gebrochen. Doch der hat dafür nicht gradegestanden, obwohl er das als Ritter hätte tun müssen. Danach war ich anderthalb Jahre allein unterwegs. Die letzten dreieinhalb Jahre war ich bei Hartmann von Aue in Celle. Dort wurde ich dann 2001 zum Ritter geschlagen.

Gibt es noch alte Rocker-Freunde an deiner Seite?

Zuerst dachten die alle, ich hab jetzt richtiges LSD genommen. Sie sagten: Bist du nicht ganz sauber? Aber sie haben gelernt, mich zu verstehen. Weil ich kein Theater spiele, ich lebe das. Es kommen sogar auch Motorrad-Leute zu meinen Festen.

Und dann geht hier in Dahlewitz die Post ab?

Klar, dann trinken wir auch mal ein Bier oder machen ne Fete. Dann genieße ich den Moment. Das ist der Unterschied: saufen oder genießen. Wenn ich abends meine Hanteln stemme, schenke ich mir ein Glas Krimsekt ein. Weil der mich motiviert. Dann kriege ich einen kleinen Schwips und fühle mich wie Teddybärchen.

Ist das eine reine Männerwelt?

Nein, überhaupt nicht. Dame Rosario de los Viento ist seit zehn Jahren an meiner Seite. Das Rittergut, so wie es heute ist, gäbe es nicht ohne sie. Wir sollten uns kennenlernen. Durch Rosario bin ich ruhiger, geradezu bedachter und sie ist durch mich revolutionärer, weniger angepasster, geworden. Wir sind eine Symbiose.

Interview: DANA GIESECKE

Dieser Beitrag ist in taz FUTURZWEI N°18 erschienen.

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