Ethnische Teilung in Nordmazedonien: Im Klassenzimmer getrennt

20 Jahre nach Ende des bewaffneten Konflikts leben Al­ba­ne­r:in­nen und Ma­ze­do­nie­r:in­nen mehr neben- als miteinander. Das liegt auch am Schulsystem.

Eine Lehrerin mit Maske steht auf einem Schulhof

Mathelehrerin Gresa Ibrahimi unterrichtet an der Liria-Schule nur die albanischen Jugendlichen Foto: Jana Lapper

TETOVO taz | Das schrille Scheppern einer Trillerpfeife, aufgebrachte Rufe, dann Jubel. Auf dem Hof der Grundschule Liria im Zentrum der nordmazedonischen Stadt Tetovo steht am Montagvormittag Sport auf dem Stundenplan. Jugendliche rennen Bällen hinterher, die Sportlehrer, beide in ihren dunklen Trainingsanzügen, plaudern bei einer Zigarette gelangweilt in der Mitte des betonierten Platzes.

Die Szene wirkt so normal, wie Sportunterricht nur sein kann. Erst auf den zweiten Blick zeigt sich, dass nicht alle Schü­le­r:in­nen miteinander spielen. Während im vorderen Teil des Hofes die Al­ba­ne­r:in­nen Volleyball und Basketball spielen, kicken die Ma­ze­do­nie­r:in­nen in der hinteren Ecke mit dem Fußball. Denn im multiethnischen Nordmazedonien werden albanische und mazedonische Schü­le­r:in­nen getrennt unterrichtet – in getrennten Klassenzimmern, so wie an der Liria-Schule, oder gleich in monoethnischen Schulen. So sollen die Kinder in ihrer eigenen Sprache lernen können.

Doch die Sprache müsste beim Sport doch kaum eine Rolle spielen? „Die Kinder müssen insbesondere im Sport­unterricht getrennt werden“, sagt Mathematiklehrerin Gresa Ibrahimi, als sie den Sportlehrern im Vorbeigehen zuwinkt und das graue Schulgebäude mit den bunten Fensterrahmen betritt. Über dem Eingang steht erst in kyrillischer, dann in lateinischer Schrift: лирија – Liria. „Sport ist in diesem Land stets nach den Ethnien getrennt“, sagt sie. „In der Schule wäre das Konfliktpotenzial hier besonders groß“, glaubt sie.

Vor 20 Jahren eskalierte in Tetovo der Konflikt zwischen albanischer Minderheit, die in dieser Region mit 55 Prozent die Mehrheit stellt, und mazedonischen Sicherheitskräften. Motiviert durch den albanischen Unabhängigkeitserfolg im Kosovo, hatte sich die sogenannte „Albanische Befreiungsarmee in Mazedonien“ gebildet, kurz: UÇK. Sieben Monate tobten die Kämpfe mit Dutzenden Toten auf beiden Seiten, bis im August 2001 das Ohrid-Abkommen unter Vermittlung von EU, Nato und USA die Gewalt beendete. Al­ba­ne­r:in­nen erhielten weitgehende Rechte, etwa die Verwendung der albanischen Sprache in der öffentlichen Verwaltung.

Albanische Schü­le­r:in­nen mit Defiziten

Zwar konnten albanische Kinder auch zu Zeiten Jugoslawiens meist in ihrer Sprache lernen, doch seit dem Abkommen hat sich die Praxis durchgesetzt. Vor allem im Nordwesten, wo auch Tetovo liegt, überwiegen rein albanische Schulen. Doch laut der Pisa-Studie 2015 hinken albanische Schü­le­r:in­nen den mazedonischen in Naturwissenschaften um ein Jahr hinterher. Später besuchen sie seltener die Hochschule und bleiben häufiger arbeitslos.

Gresa Ibrahimi läuft den Gang hinab und zeigt auf Türen: „Hier ist ein albanisches Klassenzimmer, daneben ein mazedonisches.“ Von den 1.191 Schü­le­r:in­nen der öffentlichen Einrichtung sind 799 albanisch und lernen nur in ihrer Sprache, während im Zimmer nebenan Mazedonisch gesprochen wird. Sie selbst unterrichtet Mathematik auf Albanisch. Für sie überwiegen die Vorteile des Konzeptes: „Nur so können alle ihre eigene Sprache nutzen“, sagt sie. „Das hilft beim Lernen.“

Selbst in der Pause haben mazedonische und albanische Kinder kaum etwas miteinander zu tun, erzählt Ibrahimi. Sie würden lieber mit ihren Klas­sen­ka­me­ra­d:in­nen spielen – die wegen der Aufteilung nach Sprachen eben nur der eigenen Gruppe angehören. Zumindest gebe es kaum Streitigkeiten, sagt die Lehrerin, die früher selbst diese Schule besucht hatte. „Damals kamen Schlägereien immer wieder vor“, erzählt die 25-Jährige.

In einem Bericht aus dem Jahr 2019 warnt die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), dass ganze Generationen durch die Trennung an den Schulen auseinanderdriften. „Dies hat die Interaktion zwischen jüngeren Generationen erheblich behindert und dadurch ihre Fähigkeit, Toleranz aufzubauen und dem Ethno-Nationalismus zu widerstehen“, heißt es dort über das Bildungssystem Nordmazedoniens.

Keine gemeinsame Sprache

Tatsächlich zeigt sich die Trennung zwischen Al­ba­ne­r:in­nen und Ma­ze­do­nie­r:in­nen nicht nur an den Schulen. Sie setzt sich im Erwachsenenleben fort. In Tetovo leben die Gruppen aneinander vorbei: Sie besuchen nur die eigenen Cafés, mischen sich kaum in den Freundeskreisen, daten nicht untereinander und finden oft nicht einmal eine gemeinsame Sprache – auch das eine Folge der Schulpolitik, wo albanische Kinder kein Mazedonisch lernen und andersherum.

Das Ohrid-Abkommen von 2001 hatte aber auch direkten Einfluss auf das Bildungssystem. Es wurde wie andere Bereiche auch ab 2005 dezentralisiert. So können Schulen und deren Vorstände heute über einen Großteil der Gelder selbst entscheiden – zumindest auf dem Papier. In der Realität schaltet sich oft der Bürgermeister ein, zeigten Befragungen der OECD. Auch auf Schul­lei­te­r:in­nen würden Lokalregierungen Druck ausüben, etwa wenn es um die Einstellung von Lehrkräften gehe oder das Fach Geschichte. Der politische Einfluss ist groß.

Ansätze zur Versöhnung kommen seit Jahren nicht vonseiten der jeweiligen Regierungen, sondern aus der Zivilgesellschaft

In Tetovo dominiert seit dem Ende des Konflikts vor 20 Jahren die albanische Partei BDI die Lokalregierung. Die Partei ging aus der ehemaligen Miliz UÇK hervor. Und so wird in den Geschichtsstunden weiterhin über den Konflikt geschwiegen, berichtet auch die Geschichtslehrerin der Liria-Schule. Dessen Aufarbeitung findet in Nordmazedonien nicht im Klassenzimmer mit geschulten Lehrkräften statt, sondern zu Hause am Küchentisch – durch Familienmitglieder, die oft selbst auf irgendeine Art Opfer oder Täter waren.

Ansätze zur Versöhnung kommen seit Jahren nicht vonseiten der jeweiligen Regierungen, sondern aus der Zivilgesellschaft – etwa von der Nichtregierungsorganisation Loja, deren Logo groß über dem zentralen Platz Tetovos prangt. Am Gebäude daneben leuchtet auf einer Wahlreklame der albanischen Adler – Lokalwahlen stehen an. „Den letzten Regierungen ging es immer nur um die technische Umsetzung des Ohrid-Abkommens, etwa darum, wo wie viele Albaner leben“, kritisiert Loja-Gründer Bujar Luma. „Aber sie packen das Problem nicht bei der Wurzel.“

Schon im Jahr 1999 gründete Luma die Organisation zusammen mit Freunden, als sie im Kosovo den Kampf für die Unabhängigkeit von Serbien beobachteten. „Wir wollten vorbereitet sein, wenn so etwas auch hier geschieht“, sagt er. Seitdem organisiert der Albaner mit seinem gemischten Team politische Streetart-Aktionen, ein jährliches Kurzfilmfestival, eine mobile Bücherei, bei der Kinder die jeweils andere Sprache kennenlernen können, oder Konflikt-Fortbildungen für angehende Lehrkräfte an Universitätsfakultäten im ganzen Land.

Seine Mitarbeiterin Egzona Lusliu ist für die Zusammenarbeit mit den Universitäten zuständig. „Wenn du in einem Land etwas verändern willst, musst du bei den Lehrkräften ansetzen beziehungsweise bei denen, die es werden wollen“, sagt sie. Zusammen mit der deutschen Organisation „Kurve Wustrow“ hat Loja Universitätskurse erarbeitet, die „multikulturelle Jugendarbeit in den Hochschulen verankern und damit Koexistenz und Dialog zwischen den ethnischen Gruppen stärken“, erklärt Lusliu.

Sie behandeln Themen wie gewaltfreie Konfliktlösung, Menschenrechte, Demokratie. Auch der Austausch von Studierenden, die selbst unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen angehören, gehöre dazu. Zuallererst müssten sie selbst die eigenen Erfahrungen und Vorurteile überdenken.

Zu Beginn hätten sich die Fakultäten gesträubt, Themen wie ethnische Beziehungen in ihren Lehrplan aufzunehmen – zu frisch seien die Erinnerungen an die Gewalt und die Toten gewesen. Doch 2008 gelang es, die private South East European University in Tetovo für ihr Anliegen zu gewinnen. Andere Universitäten folgten. Heute sind die von Loja entwickelten Kurse an vielen pädagogischen Fakultäten Pflicht.

Angst vor der Volkszählung

An der Schule im Zentrum von Tetovo kann Mathematik­lehrerin Ibrahimi allerdings kaum von Projekten berichten, die die Schü­le­r:in­nen näher zusammenbringen könnten. Im vergangenen Jahr habe es ein Projekt gegen Mobbing gegeben, an dem alle Kinder und Jugendlichen teilnahmen.

Obwohl seit den gewaltsamen Auseinandersetzungen 20 Jahre vergangen sind, bleibt die Situation in Nordmazedonien angespannt. So brach in den letzten Jahren bei Versuchen, eine Volkszählung durchzuführen, immer wieder Gewalt aus. Da das Ohrid-Abkommen vorsieht, dass Stellen in der öffentlichen Verwaltung oder bei der Polizei entsprechend der ethnischen Verteilung besetzt werden müssen, fürchteten viele Menschen um ihre Arbeit, sollte die Zählung neue Mehrheitsverhältnisse offenbaren. Vor wenigen Wochen wurde nach neunzehn Jahren erstmals eine Volkszählung ohne größere Zwischenfälle abgeschlossen. Die endgültigen Ergebnisse werden für 2022 erwartet.

Die Entfremdung zeigt sich in der Liria-Schule nun selbst im Lehrer:innenzimmer. In dem schlauchförmigen Raum mit drückender Zigarettenluft und dunklen Holzfurniermöbeln steht ein langer Tisch. Daran sitzen vier Lehrerinnen sauber voneinander getrennt: die Albanerinnen am vorderen Ende, die Mazedonierinnen am hinteren.

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