Abgesang auf Julian Reichelt: Hausgemachter „Bild“-Skandal

„Bild“-Chef Julian Reichelt ist freigestellt, nachdem die „New York Times“ dessen Machtmissbrauch aufdeckte. Macht strömte ihm aus jeder Pore.

Sitzender Mann mit Brille

Abgesetzt: Julian Reichelt ist nicht mehr Chefredakteur der „Bild“-Zeitung Foto: dpa

„Ich bin so sehr Bild, dass ich niemandem hinterher weine, der sich entscheidet, nicht mehr bei Bild zu sein. Das muss jeder selber wissen.“

Der Mensch, von dem dieser Satz stammt, ist seit Montag auch nicht mehr bei Bild. Doch Julian Reichelt verlässt das Immer-noch-Springer-Flaggschiff nicht aus eigener Entscheidung. Sein hausgemachter Skandal hat ihn eingeholt. Es geht um Sex, Beförderungen und Beziehungen. Um Macht auf dem Boulevard, um – aus Reichelts Sicht – Verrat und Rache. Großes Kino für Bild, wenn es nicht blöderweise den Mann an der Spitze träfe.

Selten hatte das Blatt einen Chefredakteur, der so polarisierte. Zur gediegenen Springer-Kultur passte der 41-Jährige, der sich auch schon mal als Brachialproll inszenierte, selbst auf den dritten Blick so gar nicht. Genau das war aber Reichelts großer Vorteil, mit dem ihm ein kometenhafter Aufstieg genau da gelang, wo seine Vor­gän­ge­r*in­nen das Bild vom bösen Boulevard aufzuweichen versucht hatten. Unter dem Langzeit-Chefredakteur und taz-Genossen Kai Diekmann wurde Bild für Springer-Verhältnisse geradezu spontihaft und fast ein bisschen links.

Diekmanns Nachfolgerin Tanit Koch ging diesen Weg auf dem Boulevard der Versöhnung konsequent weiter. Reichelt dagegen hatte von Tag eins an die Lizenz zum Ätzen. Unter seiner Führung wurde Bild zumindest gefühlt wieder die alte Kampfschleuder aus den 1980ern.

Reichelt ist ein Bild-Eigengewächs

Reichelts Durchmarsch und die Inthronisierung seiner Buddys auf den Schaltstellen der Redaktion führte zur Abwanderung oder inneren Emigration vieler gestandener Bild-Kräfte. Selbst das früher gefürchtete Investigativressort des Blattes zerbröselte. „Es ist doch gut, klar zu sein und zu sagen: An diesen Punkten passen wir nicht mehr zu einander. Dann trennt man sich – und es kommt etwas Neues. Leistungsträger haben wir durch neue Leistungsträger ersetzt“, kommentierte Reichelt die Entwicklung trocken vor gut einem Jahr im Fachdienst kressPro.

Macht strömt Reichelt dabei aus jeder Pore, er gefällt sich zwischendurch auch immer mal in der Rolle des enfant terrible. Wohl niemand raucht so demonstrativ und marktschreierisch im heute eher nikotinfreien Journalismus. Was Reichelt zugute zu halten ist: Er sorgte auf seine Weise für Durchlässigkeit im verkrusteten Springer-Reich. Die Anekdote, wie er einen jungen Nachtportier aus einem Freiburger Hotel, der für Bild brannte, mal eben zum Reporter machte und bald nach Beirut schickte, gab er gern zum Besten.

Spektakuläre Auslandseinsätze sind ohnehin ganz nach Reichelts Geschmack, schließlich ist das Bild-Eigengewächs so selbst ganz nach oben gekommen. Reichelt kennt Bild und sonst fast nix. Zuerst machte er ein Volontariat bei Bild, dann besuchte er die hauseigene Axel-Springer-Akademie.

„Ich liebe Bild“

Es folgten Einsätze in Afghanistan, Georgien, Thailand und vielen Kriegs- und Krisengebieten mehr. 2007 war er schon Chefreporter. Ab 2014 durfte er dann als Chef von bild.de einen Vorgeschmack darauf geben, was passieren würde, wenn er ganz oben ankommt. 2017 war es dann soweit. Dass Tanit Koch vor allem wegen Reichelt ging, ist ein offenes Geheimnis.

Genau wie der Umstand, dass Reichelt seine unangefochtene Position vor allem dem Mann verdankt, der bei Springer längst in die Rolle des Verlegers geschlüpft ist. Dass Mathias Döpfner in Reichelt so etwas wie ein alter ego sieht, ist dabei nur auf den ersten Blick ein Widerspruch.

„Bei uns kann sich jeder bewerben. Die Voraussetzung ist, dass man sagt: Ich liebe Bild“ – noch so ein Reichelt-Satz. Diese inbrünstige Begeisterung fürs eigene Tun und das eigene Reich ist auch Döpfner zu eigen. Nur dass sich das beim Vorstandschef naturgemäß intellektueller und feingeistiger Bahn bricht als beim ehemaligen Bild-Chef. Insgeheim dürfte Döpfner Reichelt aber vermutlich um seine Lizenz zum Rüpeln und seine Hemingwayesken Attitüden beneidet haben.

Döpfner lobt Reichelt zum Abschied

Das spricht auch aus den verhältnismäßig warmen Worten, mit denen sich der Springer-Chef in der Pressemeldung zu Reicherts Abgang zitieren lässt: „Julian Reichelt hat Bild journalistisch hervorragend entwickelt und mit BILD LIVE die Marke zukunftsfähig gemacht. Wir hätten den mit der Redaktion und dem Verlag eingeschlagenen Weg der kulturellen Erneuerung bei Bild gemeinsam mit Julian Reichelt gerne fortgesetzt. Dies ist nun nicht mehr möglich.“ Da schwingt mehr als nur ein „leider“ mit.

Döpfner hatte Reichelt ja auch im Sommer 2020 rausgehauen. Da hatte der sich mit dem Virologen Christian Drosten angelegt und dessen Forschungsergebnisse mit windigen Gegenexperten madig machen wollen. Die Beichte nahm der Verlagschef seinem Chefredakteur im gemeinsamen Podcast ab. Reichelt gelobte Besserung, wie auch im aktuellen Fall.

„Von meinem Vater, der auch Journalist ist, habe ich da einen prägenden Satz mitbekommen. Der sagte bei allem, was er hörte, zuerst einmal: ‚Wenn das mal stimmt‘“, hat Reichelt im schon erwähnten Interview gesagt. Auch wenn Springer mit konkreten Details knausert: Es hat gestimmt.

Dass der Konzern überhaupt das Risiko einging, Reichelt wenn auch im Stadium des betreuten Chefseins wieder an die Spitze der Bild-Familie zu lassen, hat diesen Sommer viele erstaunt. Falls die von der New York Times zitierte Aussage von Döpfner stimmt, Reichelt sei „der letzte und einzige Journalist in Deutschland, der noch mutig gegen den neuen DDR-autoritären Staat rebelliert“, spricht das Bände. Und macht einem Angst – um Springer.

Transparenzhinweis: Der Autor hat das erwähnte Interview mit Julian Reichelt für kressPro selbst geführt.

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