Schroffes und Verspieltes aus der stillen DDR

Jazz blühte im Ostdeutschland vor der Wende in den Nischen. Die Szene war klein, aber renommiert. Ihre Geschichte ist teils vergessen. Eine Erinnerung

Von Robert Mießner

„Je abgefahrener, desto besser“ hat auf den Leipziger Jazztagen Tradition. Als sie im Juni 1976 im Kino Wintergarten und im Studentenklub Grafikkeller debütierten, waren Bands und Musiker – in der Tat eine Jungs­runde – dabei, die für den experimentellen Freejazz in der DDR standen, etwa das Quartett Synopsis: Saxofonist und Flötist Ernst-Ludwig Petrowsky und Pianist Ulrich Gumpert, Klaus Koch am Bass und Günter „Baby“ Sommer an den Drums und der Perkussion. Synopsis waren bereits 1973 beim Warschauer Jazz Jamboree aufgetreten und hatten zwei Alben veröffentlicht, eines auf dem Ostberliner Staatslabel Amiga, eines beim Westberliner Freejazzlabel FMP.

Ihr Sound klang in ihrer Schroffheit in der stillen DDR unerhört, die Alben klingen, als hätten die Musiker Gerhard Schulz, einen der Leipziger Altvorderen, im Sinn gehabt. Er sagte 2018 im Deutschlandfunk: „Das war so abstrus … das war spannend. Du musst Free Jazz wenigstens drei Stunden lang laut hören, bis der Schmerz vorbei ist. Sonst kapierst du das nie, wenn du über diese Schmerzgrenze nicht drüber hinausgehst.“

Nun wurde Jazz in der DDR nicht nur von avantgardistisch geschulten Quälgeistern gespielt, aber auffällig oft. Er lässt sich zurückverfolgen bis auf das im November 1964 aufgenommene Album „Solarius“ vom Rolf Kühn Quintett, darauf enthalten sind Modern-Jazz-Stücke, nie unter sechs Minuten, dabei erstaunlich eingängig und mit „Sie gleicht wohl einem Rosenstock“ die Bearbeitung einer Volksweise. Den freien Umgang mit dem Erbe sollten Synopsis und das aus ihnen hervorgegangene Zentralquartett weiter ausbauen.

Der international renommierte und vernetzte DDR-Jazz spielte in Ostberlin, in Rostock und in Schwerin, in Mittweida und in Freiberg. Dabei war das Prestige des Jazz den Funktionären durchaus willkommen, seine grundsätzliche Unabhängigkeit aber weniger. Einer der Radikalen der frühen Achtziger war der Saxofonist Dietmar Diesner. Er gehörte zu der multimedial agierenden Szene um Bands wie die Dresdner Musikbrigade oder FINE mit der Tänzerin Fine Kwiatkowski.

Diesner konnte 1988 auf Amiga ein Soloalbum veröffentlichen; im Instrumentarium stehen neben Altsaxofon und Elec­tronics ein blauer Eimer und eine Stahltür. Ihre Musik zählt zum Radikalsten, was in der DDR veröffentlicht wurde. Im Oktober 1988 gehörte Diesner zum Ensemble, das Heiner Goebbels Vertonung von Heiner Müllers „Der Mann im Fahrstuhl“ während der Leipziger Jazztage im Zirkus Busch aufführte.

Ein west-östliches Gipfeltreffen, zwei Jahre, bevor Diesner mit Petrowsky und dem Gitarristen Lothar Fiedler unter dem Titel „Kammerjägerei“ die Reihe „Jazz in der Kammer“ am Deutschen Theater in Berlin am 10. November 1990 mit verabschiedete.