Großbritannien lockert Einwanderungsbegrenzung: Tank leer, Schnauze voll

Die Debatte über Lkw-Fahrer*innen in Großbritannien geht weiter. Außerdem sorgt ein Gerücht für Hamsterkäufe an Tankstellen.

Autos waren auf Betankung.

Großbritannien am Samstag: Schlangestehen an der Tanke Foto: Martyn Wheatley/imago-images

LONDON taz | Die kilometerlange Schlange vor einer Esso-Tankstelle in Nordlondon bewegt sich kaum. Immer wieder hupen ungeduldige Fahrer*innen, manche überholen auf der engen Straße, um sich weiter vorne wieder reinzudrängeln, und stehen dann dem Gegenverkehr im Weg. Weiteres Hupen und Fluchen folgt. Ein älterer Mann auf seinem Sonntagsspaziergang schüttelt fassungslos den Kopf.

Dieses Schauspiel wiederholt sich an diesem Wochenende vielerorts im Vereinigten Königreich und führt zu Schlägereien und Wucherpreisen. Sogar Krankenwagen konnten nicht volltanken, während Videos in sozialen Netzwerken zeigen, wie manche Autofahrer gleich mehrere Reservekanister füllen.

Ausgelöst hatte diesen Zustand, der an die Hamsterkäufe von Toilettenpapier zu Beginn der Coronapandemie erinnert, eine sich wie ein Lauffeuer verbreitende unbestätigte Meldung, die angeblich vom Öl­konzern BP stammte: Ein Mangel an Lkw-Fahrer*innen könnte zu Lieferproblemen an den Tankstellen führen. Die Regierung dementiert beständig, aber das nützt offenbar nichts.

Am Samstagabend forcierte diese Entwicklung eine Notabänderung der seit dem Brexit bestehenden neuen britischen Einwanderungsbestimmungen für Arbeitskräfte aus dem Ausland.

Die erlauben eigentlich nur die Einwanderung, wenn es sich um einen Facharbeitsplatz mit einem Jahresgehalt von mindestens 25.600 Pfund (etwa 29.900 Euro) handelt; im Gesundheitsbereich beträgt diese Untergrenze 20.480 Pfund (etwa 24.000 Euro). Lastwagenfahren gilt nicht als Facharbeit, sondern als einfache Tätigkeit, die gar nicht für ein Arbeitsvisum in Frage kommt.

Bis Weihnachten können nun laut einer Sonderregel 5.000 ausländische Lkw-Fahrer*innen und 5.500 Ar­bei­te­r*in­nen für die Geflügelindustrie zusätzlich auch ohne Einhalten dieser Mindestverdienstgrenzen eine Arbeitserlaubnis beantragen. So möchte die Regierung von Premierminister Boris Johnson „Weihnachten retten“, wie es in manchen Berichten heißt.

Lieferprobleme frei Haus

Laut dem Arbeitsvermittlungsbüro Reed liegen die Gehälter für Lkw-Fahrer*innen in Großbritannien zwischen 26.000 und 35.000 Pfund im Jahr – allerdings lässt die Not an Fah­re­r*in­nen in den vergangenen Monaten das Gehalt mancherorts auf bis zu 50.000 Pfund ansteigen, heißt es. So verdienen die meisten Lkw-Fahrer ohnehin mehr als die Mindestgrenze. Die Sonderregelung stuft das Fahren auch zu einer Fachtätigkeit hoch, für die ein Visum erteilt werden darf.

Schon seit vielen Monaten gibt es im Vereinigten Königreich Lieferprobleme in zahlreichen Wirtschaftsbereichen. Schuld daran hat eine Mischung von Faktoren: immer schlechtere Arbeitsbedingungen, fehlender Nachwuchs, schlechte Bezahlung und der Weggang von Arbeitskräften aus EU-Ländern nach dem Brexit.

Im Lkw-Bereich beklagen Arbeitnehmer als Teil der negativen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte überlange Arbeitszeiten, die beständige Überprüfung des Aufenthaltsorts und Überwachung der Tätigkeit und die Notwendigkeit, in der Fahrerkabine zu schlafen. Dazu kommen zumindest im grenzüberschreitenden Verkehr die neuen wegen des Brexits notwendigen Formalitäten an den Grenzen zur EU. Insgesamt herrscht ein Defizit von etwa 100.000 Lkw-Fahrerinnen, wovon nur ein Bruchteil auf den Wegzug von EU-Bürgern zurückgeführt wird.

Eigentlich wollte die Johnson-Regierung dieses Problem ohne ausländische Zusatzkräfte lösen. Mehr Arbeitsplätze für britische Ar­beit­neh­me­r*in­nen war schließlich eines ihrer zentralen Wahlversprechen und ein Brexit-Gelübde. So wurde die Kapazität der Führerscheinprüfungen erhöht, damit möglichst schnell 50.000 neue britische Lkw-Fahrer*innen auf den Arbeitsmarkt kommen – während der Pandemie fanden lange Zeit gar keine Prüfungen statt.

Sofortige Lösung angeordnet

Mehr wollte die Regierung jedoch nicht tun, obwohl Wirtschaftsverbände wiederholt kurzfristige Verstärkung durch ausländische Arbeitskräfte noch vor Weihnachten verlangten. Noch am Donnerstag wurden diese Rufe von Verkehrsminister Grant Shapps und Innenministerin Priti Patel abgelehnt. Dann machte das Chaos an den Tankstellen diese Position unhaltbar und am Freitag ordnete Premierminister Johnson eine sofortige Lösung des Problems an.

Neben den neuen Visumsregeln schreibt das Verkehrsministerium nun außerdem alle Bri­t*in­nen mit Lkw-Führerschein an, um sie ans Lenkrad zu bitten. Sonderkurse mit Fahr­le­hre­r*in­nen aus der Armee sollen ab sofort Tru­cke­r*in­nen im Schnellverfahren ausbilden.

Andrew Opie vom britischen Einzelhandelsverband hieß die Ausnahmeregelung zwar willkommen, fragte sich jedoch, ob 5.000 ausländische Fah­re­r*in­nen genug seien. Allein die britischen Supermärkte benötigten für das diesjährige Weihnachtsgeschäft 15.000 zusätzliche Lkw-Fahrerinnen, sagte er. Marco Digioia vom Verband europäischer Logistikunternehmen bezweifelt, dass sich viele aus der EU bewerben – denn dort bestehe ebenfalls ein Mangel an Lkw-Fahrer*innen.

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