Flüchtlingsrat beklagt brutale Abschiebungen

Der Flüchtlingsrat Nordrhein-Westfalen attestiert den Ausländerbehörden eine „barbarische Abschiebepraxis“. Er verlangt von Innenminister Wolf, zahlreiche Fälle von brutalen Abschiebungen im vergangenen Monat aufzuklären

KÖLN taz ■ Der Flüchtlingsrat NRW fordert in einem 10-seitigen Brief an den neuen Innenminister Ingo Wolf (FDP) und die Landtagsfraktionen Aufklärung über eine offenbar brutale Sammelabschiebung Ende Juni vom Düsseldorfer Flughafen. Dem Schreiben beigelegt ist eine Dokumentation von sechs Fällen, die „ein erschütterndes Schlaglicht auf eine barbarische Abschiebepraxis und einen unmenschlichen Umgang deutscher Behörden mit Flüchtlingen werfen“, sagt Andrea Genten, Geschäftsführerin des Flüchtlingsrats. Tatsächlich hat einer der Fälle bereits Wellen geschlagen: Aufgrund eines Berichts der Bochumer Rechtsanwältin Neslihan Celik, die ihren Mandanten am Flughafen mit Verletzungen im Gesicht sah, leitete die Bezirksregierung Düsseldorf eine Untersuchung ein, bestätigte Pressesprecher Bernd Hamacher der taz.

Die rund 70 Flüchtlinge waren in der Nacht vom 27. auf den 28. Juni von Düsseldorf nach Istanbul abgeschoben worden. Laut der fünfseitigen Dokumentation, die der taz vorliegt, waren die Betroffenen in den sechs recherchierten Fällen alle nachweislich traumatisiert und teilweise erst vor kurzem von Ärzten für nicht-reisetauglich und suizidgefährdet erklärt worden. So wurde Herr S. aus Segeberg (Schleswig-Holstein), der wegen erlittener Folter in türkischer Haft schwer traumatisiert ist, direkt aus einer psychiatrischen Klinik abgeholt und ohne seine Familie abgeschoben.

Auch eine fünfköpfigen Familie aus Bestwig (Hochsauerlandkreis), bekam die volle Härte der Behörden zu spüren: Der Vater stürzte sich vom Balkon, als die Polizei ihn abholen wollte (taz berichtete). Es lagen mehrere ärztliche Stellungnahmen vor, die der Ehefrau „dringenden Verdacht auf posttraumatische Belastungsstörung“ attestierten. Weil die Ausländerbehörde aber auf der Abschiebung beharrte, hatte der Rechtsanwalt der Familie einen Antrag an die NRW-Härtefallkommission gestellt – über den bis zur Abschiebung noch gar nicht entschieden war, wie die Dokumentation eindeutig festhält.

In einem dritten Fall wurde einer ebenfalls traumatisierten Frau aus Herne laut Aussagen von herbeigeeilten Nachbarn noch in der Wohnung eine Spritze gegeben. Ihr Mann sei von Beamten überwältigt und an Händen und Füßen gefesselt worden. Anwältin Neslihan Celik, die nach einem Telefonanruf zum Düsseldorfer Flughafen gefahren war, sagte der taz: „Ich habe Verletzungen im Gesicht des Ehemanns gesehen, als der Bus an mir vorbei auf das Flughafengelände gefahren ist.“

Beim Flüchtlingsrat hofft man nun, dass die Dokumentation der sechs Fälle mit Aussagen und Unterlagen von Ärzten, Rechtsanwälten und Flüchtlingsberatern zu „entsprechenden Konsequenzen der Politik“ führt, so Genten. Denn die recherchierten Fälle seien „leider keine bedauerlichen Einzelfälle“. So sei es inzwischen fast Usus, dass sich Ausländerbehörden nicht um ärztliche Gutachten scheren und attestierte Krankheiten von Flüchtlingen „einfach nicht Ernst nehmen“.

Auch bei der NRW-CDU „wird inzwischen nur noch von ‚so genannten‘ Traumatisierungen geredet“, als sei das ein Trick der Anwälte“, beklagt Genten. So bleibt sie skeptisch, ob die neue Landesregierung etwas an der „zunehmenden Tabula-Rasa-Politik“ gegenüber Flüchtlingen ändern wird. Zumal nach den jüngsten Attentaten in London auch die Vorbehalte gegenüber „Fremden“ – vor allem Muslimen – wieder prächtig gedeihen werden, fürchtet sie. „Solche Terroranschläge leisten der Abschottungsmentalität Vorschub.“ SUSANNE GANNOTT