„Gandhi war auch im Hungerstreik“

Der Nahrungsausstand fürs Klima geht in die vierte Woche. Protestforscher Dieter Rucht findet die Aktion nicht aussichtsreich

„Mehr möglich als freundlich-bunte Straßen­proteste – aber auch als Hungerstreik“: zwei Ak­ti­vis­t:in­nen an Tag 17 Foto: Florian Boillot

Interview: Susanne Schwarz

taz: Herr Rucht, die Hungerstreikenden fordern ein Gespräch mit den Kanz­ler­kan­di­da­t:in­nen und deren Versprechen, im Falle ihrer Wahl einen Klimabürgerrat einzurichten. Überrascht Sie die Diskrepanz zwischen der extremen Protestform und den gemäßigten Forderungen?

Dieter Rucht: Ja, die überrascht mich. Wenn man glaubt, man müsse in den Hungerstreik gehen, dann muss man doch auch substanzielle Forderungen stellen. Hier sind die Forderungen aber nur formaler Art.

Immerhin führt man damit den Vorwurf ad absurdum, die eigenen Vorstellungen durch den Hungerstreik moralisch erpressen zu wollen.

Von Erpressung würde ich sowieso nicht sprechen. Dafür müsste ein nennenswerter Schaden auf der gegnerischen Seite eintreten, wenn die Forderungen nicht erfüllt werden. Das halte ich hier nicht für gegeben. Aber so ein Bürgerrat bleibt ein Beteiligungsformat – das macht die Idee nicht schlecht, aber diese Gremien haben keine Entscheidungsmacht.

Halten Sie es für aussichtsreich, dass der Hungerstreik sein Ziel erreicht?

Jetzt im Vorfeld der Wahl den Kanz­ler­kan­di­da­t:in­nen die äußeren Bedingungen des Gesprächs zu diktieren und dabei auf Zugeständnisse zu hoffen, halte ich eher für naiv.

Kann man aus sozialwissenschaftlicher Sicht Kriterien ausmachen, wann Hungerstreiks erfolgreich sind?

Was? Seit dem 30. August befindet sich eine Gruppe von Klimaaktivist:innen im Berliner Regierungsviertel im Hungerstreik. Die Initiative nennt sich „Hungerstreik der letzten Generation“.

Wozu? Die Protestierenden fordern ein öffentliches Gespräch mit den Kanzlerkandidaten Armin Laschet (CDU) und Olaf Scholz (SPD) sowie Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock (Grüne) am Donnerstag um 19 Uhr, also noch vor der Bundestagswahl. Zudem verlangen sie einen Klimabürgerrat, der Empfehlungen für ein Sofortprogramm ausarbeiten soll.

Reaktion? Baerbock, Scholz und Laschet haben den Streikenden vergangene Woche gemeinsam übermitteln lassen, sie wären „einzeln, persönlich und nicht öffentlich – nach der Wahl“ zu einem Gespräch bereit. Sie, die Bundesregierung, aber auch Greenpeace und der DNR appellierten an die Ak­ti­vist:in­nen, den Streik aufzugeben.

Und nun? Wenn der Donnerstagtermin verstreicht, wollen einige der Hungerstreikenden auch keine Flüssigkeit mehr zu sich nehmen, die anderen den Streik beenden.

Eindeutige Kriterien gibt es aus meiner Sicht nicht. Aber natürlich gab es schon erfolgreiche Hungerstreiks. Der größte, der mir einfällt, ist der Hungerstreik kalifornischer Gefängnisinsassen gegen Isolationshaft im Jahr 2013. Daran beteiligten sich über einen Zeitraum von zwei Monaten 30.000 Menschen. Die Behörden reagierten.

Und bei komplexen gesellschaftlichen Fragen wie der Klimakrise?

Gandhi war mehrfach im Hungerstreik. Aber er hat eben auch andere Aktionen genutzt. Da einen konkreten Anteil des Hungerstreiks am Ende der britischen Kolonialherrschaft in Indien auszumachen, ist schwierig.

Können Sie denn die Verzweiflung einer Generation verstehen, die im Klimawandel aufgewachsen ist und in ihrer Lebenszeit extreme Einschränkungen von Freiheit und Sicherheit durch diese Krise zu befürchten hat?

Natürlich, aber das Repertoire an anderen Protest- und Widerstandsmöglichkeiten ist bei Weitem noch nicht ausgereizt. Damit meine ich nicht nur fröhlich-freundliche Straßenproteste, sondern auch zivilen Ungehorsam. Sowohl in Qualität als auch in Quantität ist das Spektrum da noch nicht ausgeschöpft.

Foto: Stephan Moll

Dieter Rucht, Jahrgang 1946, ist Soziologe und Protest­forscher.

Sollte die Klimabewegung von symbolischen Aktionen des zivilen Ungehorsams – etwa der Besetzung eines Kohletagebaus – zu solchen Protesten übergehen, die praktische Auswirkungen haben?

Ja, es gibt Protestformen, mit denen man die Routinen des Alltags stört. Und wenn man sagt: Wir haben das versucht, da kommen nicht genug Leute – dann muss man es erst mal anders versuchen.

Das heißt im Prinzip, dass am besten Fridays for Future als große Bewegung mit riesigem Rückhalt die Autobahnen blockieren sollte?

Fridays for Future ist diesen Schritt des zivilen Ungehorsams über den Schulstreik hinaus bisher nicht gegangen. Das könnte sich allmählich ändern. Man muss dabei aber sehr darauf achten, dass man das Gros der Bevölkerung nicht gegen sich aufbringt, sondern vielmehr Verständnis weckt. Es kommt auf die Kommunikation mit der Öffentlichkeit an.