Skandinavische Note

Der Südschleswigsche Wählerverband vertritt die dänische und friesische Bevölkerung im nördlichsten Bundesland der Republik. Mit Stefan Seidler als Spitzenkandidat strebt die Partei nach 60 Jahren wieder
einen Sitz im Bundestag an. Warum das gar nicht mal so aussichtslos ist

Volles Haus: In der Duborg-Skolen in Flensburg stellen sich die Direktkandi­daten für die Bundestagswahl den Schü­le­r*in­nen­fra­gen Foto: Camilla Sörensen

Aus Flensburg Barbara Oertel

Es ist keine alltägliche Unterrichtsstunde, die an diesem Morgen in der Flensburger Duborg-Skolen stattfindet – eine von zwei Gemeinschaftsschulen der dänischen Minderheit mit gymnasialer Oberstufe in Schleswig-Holstein. Die Turnhalle, eng bestuhlt, ist mit rund 200 Schü­le­r*in­nen der Jahrgangsstufen 10 bis 13 gut gefüllt. Einige haben sich, samt Regenbogenflagge, in der ersten Reihe auf den Boden gekauert.

Heute gibt es hier, knapp anderthalb Wochen vor der Bundestagswahl am 26. September, heimische Po­li­ti­ke­r*in­nen zum Anfassen. Von elf Di­rekt­kan­di­da­t*in­nen im Wahlkreis 1, der die Stadt Flensburg und den Kreis Schleswig-Flensburg umfasst, sind neun zum Schaulaufen erschienen. Der Grüne Robert Habeck lässt sich durch seinen Parteifreund Rasmus Andresen, seit 2019 Abgeordneter im EU-Parlament, vertreten. Auch die CDU-Frontfrau Petra Nicolaisen, die 2017 mit 40 Prozent der Stimmen den Wahlkreis holte, hat einen jungen Ersatzmann in die Schule geschickt.

Doch ein bisschen Schwund ist immer und die Zeit an diesem Vormittag knapp. Mirco Reimer-Elster, Moderator der Debatte, hält sich nicht lange mit Vorreden auf. „Das Triell kann einpacken“, sagt Reimer-Elster, der ein beiges Jackett mit schwarz-rot-goldenen Streifen trägt. Er selbst ist Absolvent der Duborg-Skolen und als Journalist des dänischen Fernsehsenders TV2 so etwas wie ein Star bei den nördlichen Nachbar*innen.

Die erste Runde ist eingeläutet – zwei Minuten für jede/n. Jan Petersen-Brendel von der AfD versucht, sich als Opfer in Szene zu setzen Er beklagt die negative Berichterstattung in den Medien, die ihm doch allen Ernstes eine Nähe zu Adolf Hitler unterstellten. Die Rede ist von einem Facebook-Post Brendels am 20. April vergangenen Jahres, in dem er Geburtstagsgrüße an das deutsche Volk richtete. Damit sei das Ende des ersten Lockdowns in der Coronapandemie gemeint gewesen, sagt er, was viele Schü­le­r*in­nen mit höhnischem Gelächter quittieren. Auch bei der AfD scheint der Post nicht auf fruchtbaren braunen Boden gefallen zu sein. Unlängst wurde bekannt, dass gegen Petersen-Brendel ein Parteiausschlussverfahren läuft.

Das Kan­di­da­t*in­nen­ka­russell dreht sich weiter, jetzt ist Stefan Seidler an der Reihe. Er steigt für den Südschleswigschen Wählerverband (SSW) in den Ring, der rund 3.000 Mitglieder hat und die dänische und friesische Minderheit im Bundesland vertritt – schätzungsweise und auf der Grundlage eines Selbstbekenntnisses von jeweils 50.000 bis 60.000 Menschen. Sie sind, neben den Sorben sowie Roma und Sinti, als Minoritäten offiziell anerkannt. Es sei schön, wieder an seiner alten Schule zu sein, den Duft und die Atmosphäre zu spüren, hier habe er seine politische Karriere begonnen“, sagt der 41-Jährige auf Dänisch und spielt damit auf seine damalige Tätigkeit für die Jugendorganisation des SSW an.

Dann platzt ihm der Kragen. „Es läuft mir kalt den Rücken runter, wenn ich hier in meiner alten Schule stehe und erlebe, wie sich dieser Mann von der AfD seine schmutzigen Hände wäscht“, ruft er auf Deutsch mit bebender Stimme. Die Verbalattacke bringt ihm Applaus des Publikums und den Hinweis des Moderators ein, dass bei dieser Veranstaltung Ver­tre­te­r*in­nen aller Parteien gehört werden sollten, auch wenn man mit ihren Standpunkten nicht einverstanden sei.

Nach 90 Minuten ist alles vorbei, nur Seidler und der Grünen-Vertreter werden noch von Schü­le­r*in­nen belagert, um Fragen zu beantworten. „Ich wusste bislang nur wenig über den SSW, aber dessen Kandidat hat alle Punkte gut vertreten“, sagt Rasmus, ein Schüler, der einen Tag vor der Bundestagswahl 18 Jahre alt wird. „Die Partei könnte mehr Vielfalt in den Bundestag bringen, aber das Thema Minderheiten ist für mich nicht das wichtigste.“

Dass es für die auf Deutsch, Dänisch sowie in Leichter Sprache mit einem Wikingerschiff beworbene „Mission Bundestag“ heutzutage nicht nur bei der jungen Generation mehr „Butter bei die Fische“ braucht, ist auch dem SSW klar. Der letzte Versuch dieser Art liegt 60 Jahre zurück. Nach der Wahl 1949 stellte die ein Jahr zuvor gegründete Partei, die von der Fünfprozenthürde befreit ist, mit Hermann Clausen ihren bisher einzigen Abgeordneten im Bundestag. Nachdem Anläufe 1957 und 1961 gescheitert waren, verabschiedete sich der SSW von bundespolitischen Ambi­tio­nen, war jedoch mit einer Ausnahme (1954–58) durchgängig im schleswig-holsteinischen Landtag vertreten. 2012 bis 2017 war der SSW erstmals an der Landesregierung beteiligt und stellte im Verbund mit SPD und Grünen in der „Küstenkoalition“, auch „Dänen-Ampel“ genannt, mit Anke Spoorendonk die Ministerin für Justiz, Europa und Kultur. Sie holte Seidler, der im dänischen Aarhus Staats- und Politikwissenschaft sowie politische Kommunikation studiert hat, als Dänemark-Koordinator der Landesregierung nach Kiel. Diesen Job hat er bis heute.

„Ich will unsere Region als Ganzes stärken.

Denn wir kommen hier zu kurz“

Stefan Seidler, Spitzenkandidat des SSW

Nun nehmen er und der SSW unter dem Motto „Moin Berlin“ Kurs auf die Hauptstadt. Die Chancen, dort auch anzukommen, stehen so schlecht nicht. Zwischen 40.000 und 50.000 Zweitstimmen bräuchte die Partei, für die sich bei der letzten Landtagswahl 2017 47.000 Wäh­le­r*in­nen entschieden. Ob es dann für Seidler wirklich reicht, hängt neben der Anzahl von Überhangs- und Ausgleichsmandaten auch von der Wahlbeteiligung ab.

Stefan Seidler verlässt das Schulgebäude, es ist 12.30 Uhr. Er müsse jetzt mal „früh“stücken, sagt er und schlägt ein Café in „seinem Kiez“ vor. Dort gebe es aber auch Bier und gute Cocktails.

Sein Kiez, wo auch der SSW in einem ehemaligen Spirituosenhandel vorübergehend seine Zelte aufgeschlagen hat, ist die Norderstrasse in der nördlichen Altstadt, ein jahrzehntelang vernachlässigter Wurmfortsatz der Fußgängerzone im Herzen Flensburgs. Anlaufpunkt war hier vor allem der Olof-Samson-Gang – eine Verbindungsgasse zum Hafen mit historischen Fischerhäuschen nebst umfassenden Angebot an körpernahen horizontalen Dienstleistungen.

Doch das ist alles Geschichte. Jetzt reihen sich auf der Norderstrasse in Häusern mit frisch gestrichenen Fassaden kleine Geschäfte und hippe gastronomische Einrichtungen aneinander.

Seidler steuert das Café Lykke („Glück“) an, ordert ein Sandwich und einen Kaffee. „Ein Start-up“, sagt er und lächelt. Die Be­trei­be­r*in­nen seien ebenfalls Ab­sol­ven­t*in­nen der Duborg-Skolen. Dann legt er los. „Wir müssen das Thema aller Minderheiten in Berlin auf die Tagesordnung setzen, deren Rechte müssen endlich im Grundgesetz verankert werden“, sagt er. Dabei ist die Lage der dänischen Minderheit im Vergleich zu den Frie­s*in­nen geradezu privilegiert. Während Letztere jährlich beim Bund Klinken putzen müssen, um an Mittel für Kultur und Bildung zu kommen, erhält die dänische Minderheit neben Geldern aus Berlin und Kiel auch noch Zuwendungen aus dem Mutterland Dänemark.

Wie störanfällig das Verhältnis, das so gerne als positives Beispiel für ein gedeihliches Mit- und Füreinander bemüht wird, dennoch ist, zeigen Streitigkeiten über Kürzungen deutscher Mittel für dänische Schulen, die in der Vergangenheit mehrmals zu lautstarken Protesten führten. Jüngstes Beispiel: der Digitalpakt. „Da sind die dänischen Einrichtungen schlichtweg vergessen worden“, ärgert sich Seidler.

Wahlkampf in der Schul­arena: Stefan Seidler vom SSW Foto: Camilla Sörensen

Doch das Trommeln für Minderheiten ist beileibe nicht das einzige Anliegen des SSW, der in deutschen Medien auch schon mal als Truppe von „Ikea-Sozialisten“ verspottet wird. Denn die Partei propagiert skandinavische Lösungen. Dazu gehören eine Bürgerrente, elternunabhängiges Bafög, gleiche Gehälter für Männer und Frauen sowie ein Ausbau der digitalen Infrastruktur – ein Bereich, in dem die Dä­n*in­nen ihrem Nachbarn haushoch überlegen sind und dessen Rückständigkeit nur müde belächeln. Mittlerweile läuft in Dänemark alles digital ab – auf dem Bürgerportal borger.dk kann, wer eine Rattenplage hat, sogar einen Kammerjäger bestellen.

Dann kommt Seidler zu seinem Lieblingsthema, das, wie er zugibt, für ihn die größte Motivation sei, sich für ein Bundestagsmandat zu bewerben. „Ich will unsere Region als Ganzes stärken, denn wir kommen hier zu kurz“, sagt er und redet sich in Rage. So sei Schleswig-Holstein im Bundesverkehrswegeplan für 2030 nur mit 22 Initiativen drin, in Bayern seien das hingegen 325. Dabei habe die Region als Standort für Forschung und Innovation durchaus einiges zu bieten, die Voraussetzungen für eine wirtschaftliche Entwicklung seien daher gut. „Wir müssen in Berlin den Rüssel in die Kasse kriegen“, sagt Seidler und lacht. Das sei eine Formulierung aus dem Dänischen.

Um den Norden voranzubringen, will er mit anderen schleswig-holsteinischen Abgeordneten ein parteiübergreifendes Bündnis schmieden. Um Allianzen wird Seidler ohnehin nicht herumkommen, hat ein einzelner Abgeordneter doch keine Fraktion hinter sich und ist bei Redezeiten und bei der Besetzung von Ausschüssen im Hintertreffen.

Doch das schreckt Seidler weniger als die Aussicht, sollte er denn gewählt werden, in einem Büro direkt neben der AfD einquartiert zu werden. „Wenn das so kommt, werde ich sofort eine Eingabe beim Bundestagspräsidenten machen“, sagt er. Was er fordern wolle? Minderheitenschutz, was sonst.