Buch von Séverine Autesserre: Friedenspolitik von unten

Die globale Außenpolitik hat sich verrannt, wie sich zurzeit in Afghanistan offenbart. Séverine Autesserre zeigt in ihrem Buch, wie es anders geht.

Ein Helikopter landet und um ihn herum stehen afghanische Männer

UN-Mission in Afghanistan 2005: Helikopter bringen Wahlunterlagen in ein entlegenes Dorf Foto: Christophe Archambault/afp

Der Sieg der Taliban in Afghanistan erschüttert das westliche Selbstbewusstsein. Nation-Building sei nie das Ziel der Intervention gewesen, behauptet US-Präsident Joe Biden. Armin Laschet, der Deutschlands nächster Bundeskanzler werden will, konstatiert die größte Krise der Nato seit ihrer Gründung 1949, denn „das Ziel des Systemwechsels, militärisch einzugreifen, um eine Diktatur zu beenden, um eine Demokratie aufzubauen, ist fast durchgängig gescheitert“.

Seine Parteikollegin und Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer sagt unverblümt, es sei misslungen, „aus Afghanistan ein anderes Land zu machen“.

Demokratie und Nationenaufbau sind aus dieser Sichtweise Dinge, die man Afghanistan von außen aufpfropft. Die Taliban sind demgegenüber eine Art Naturzustand. Es ist eine fatalistische und zugleich imperiale Sichtweise, die komplett ausblendet, was Afghaninnen und Afghanen selbst wollen, denken und tun – und warum.

Diese Sichtweise behandelt Afghanistans Zukunft am liebsten auf Friedenskonferenzen im Ausland – von der Petersberger Konferenz nahe Bonn Ende 2001, die nach der US-Eroberung den Grundstein für die politische Neuordnung des Landes legte, bis zu den Verhandlungen in Katars Hauptstadt Doha 2019/20, auf denen US-Präsident Donald Trump mit den Taliban (und nicht etwa mit Afghanistans legitimer Regierung) den Abzug der US-Truppen aushandelte und ihnen damit die politische Legitimität zurückgab, die ihre Gegner demoralisierte. Wieso soll man einen Feind bekämpfen, dem die eigene Schutzmacht gerade das eigene Land schenkt?

Eigene Denkmuster infrage stellen

Man muss gar nicht weiter gehen, um zu verstehen, warum das westlich gestützte Afghanistan wie ein Kartenhaus zusammengebrochen ist. Die westliche Politik aber rätselt lieber über eine überraschend „kampf­unwillige“ afghanische Armee und erkennt das Pro­blem nicht. Denn dazu müsste sie die eigenen Denkmuster infrage stellen.

Severine Autesserre: „The Frontlines of Peace An Insider's Guide to Changing the World“. Oxford University Press 2021, 240 Seiten, 18,99 £

Das Lebenswerk der an der Columbia University in den USA lehrenden französischen Politologin Séverine Autesserre besteht darin, diese Denkmuster zu dechiffrieren.

„The Trouble with the Congo“ (2010) analysiert das Scheitern der internationalen Friedenspolitik in der Demokratischen Republik Kongo, wo Autesserre jahrelang gearbeitet und unter anderem Ärzte ohne Grenzen beraten hat; „Peaceland“ (2014) erweitert diese Erkenntnisse in einer brillanten Ethnografie der globalen Industrie des „Peacebuilding“; und nun legt sie mit „The Frontlines of Peace: An Insider’s Guide to Changing the World“ (2021) praktische Alternativen vor, Handlungsanstöße für eine bessere Politik.

Distanz zur lokalen Bevölkerung

Autesserre beschreibt aus eigener Erfahrung den Unsinn, der passiert, wenn „Friedensschaffer“ von einem Kriegsgebiet zum anderen hüpfen, mit jedem Landeswechsel Karriere machen, überall das gleiche Standardrezept anwenden, sich möglichst wenig auf die jeweiligen Umstände einlassen und möglichst große Distanz zur lokalen Bevölkerung wahren.

Sie leben in ihrer eigenen Blase und ihrer eigenen Welt. Jeder, der Zeit in Dauerkrisenhauptstädten verbracht hat, von Kabul über Juba bis Priština, wird diese Welt wiedererkennen – samt der Arroganz und des ständigen Politikversagens, für das man dann die Einheimischen verantwortlich macht.

Afghanistan-Erfahrung hat Autesserre nicht, aber ihre wenigen Sätze dazu illustrieren ihre Gesamtanalyse. „ ‚Peacelander‘ und Politiker betonen meistens die nationalen und internationalen Dimensionen von Afghanistans Kriegen: die Rebellionen, die der kommunistische Putsch von 1978 auslöste, die sowjetischen und amerikanischen Invasionen und der aktuelle Kampf der Regierung und ihrer westlichen Verbündeten gegen die Taliban und ihr internationales Netzwerk.

Es stimmt, dass all diese Konflikte seit über 40 Jahren ausgedehntes Blutvergießen verursacht haben. Aber das haben auch andere Problemfelder, die Afghanen erwähnen, sobald Forscher sich die Zeit nehmen, mit ihnen zu sprechen: Streit um lokale Macht, Land, Wasser, Schulden, Hochzeiten, Scheidungen und andere persönliche und finanzielle Dinge. Die Elitekämpfe, von denen die Auswärtigen ständig reden, schüren diese Spannungen – und werden von ihnen geschürt.“

Frieden von oben

Ähnliches stellt sie für Südsudan fest, für Darfur, für Kongo, Osttimor, Liberia, die Zentralafrikanische Republik und andere Länder, und sie fordert ein anderes Herangehen. Zwar seien nationale und internationale Friedensprozesse wichtig – aber sie allein beenden Konflikte nicht.

„Frieden von oben zu schaffen beendet nicht notwendigerweise Spannungen vor Ort. Wenn wir Gewalt in Konflikt- und Postkonfliktsituationen verstehen und damit umgehen wollen, müssen wir den Blick weiter richten als auf Eliten, Regierungen und Rebellenführer und auch provinzielle, lokale und individuelle Motiva­tio­nen einbeziehen. Konflikte müssen von oben und von unten gelöst werden.“

Es klingt einfach und selbstverständlich – ist es aber nicht. Autesserre erzählt, wie schief sie angesehen wird, wenn sie Di­plo­ma­ten mit ihren Thesen konfrontiert. Sie beschreibt den kongolesischen Unternehmer Michel Losembe, der merkte, dass internationale Kongo-Experten ihn nicht ernst nahmen, weil er Kongolese war.

„Lo­sem­be, der gemischter afrikanischer und europäischer Abstammung ist und hellhäutiger als die meisten Kongolesen, unternahm ein soziales Experiment. Auf einem Treffen im Ausland gab er sich als Puer­to­ricaner aus. Die Teilnehmer verhielten sich ihm gegenüber völlig anders, als er es je erlebt hatte. Ausländische Helfer sprachen ihn respektvoller an, hörten ihm aufmerksamer zu und nahmen seine Ideen ernster.“

Begrüßte Taliban

Das Buch nennt Positivbeispiele: lokale Friedensprozesse im Ostkongo oder die interna­tio­nal nicht anerkannte Re­pu­blik Somaliland, die seit 30 Jahren den einzigen funktionierenden Staat auf somalischem Boden hat.

Gute Friedens­poli­tik beginnt mit den Men­schen vor Ort

In Afghanistan identifiziert Autesserre mit aller Vorsicht die Provinz Balkh um Masar-i-Scharif, die weniger Gewalt erlebt habe als andere. Balkh ist inzwischen unter Taliban-­Kon­trol­le, und ein BBC-Bericht schildert, Bewohner würden an den neuen Herren schätzen, dass Landstreitigkeiten jetzt ohne Schmiergeld vor Gericht verhandelt würden. So etwas erklärt, warum es Leute gibt, die die Taliban begrüßen. Um sie aufzuhalten, hätte man sich auch um so etwas rechtzeitig kümmern müssen.

Gute Friedenspolitik, so Autesserre, beginnt mit den Menschen vor Ort. Man muss erkennen, was sie umtreibt, und mit ihnen gemeinsam überlegen, wie man Probleme löst, die zu Konflikten führen – undogmatisch und flexibel. Nur so kann ein Frieden entstehen, den die Menschen als ihren eigenen anerkennen und bewahren.

Es ist ein pragmatisches Politikverständnis, das gerade in Deutschland sehr wenig Anerkennung findet – nicht von ungefähr ist keines von Autesserres Büchern auf Deutsch erschienen. Deutschland setzt lieber auf Friedensmissionen und Gipfeltreffen, betreibt Außenpolitik lieber appellativ und theoretisch als praktisch.

Autesserres zentraler Satz ist für die deutsche außenpolitische Debatte ein Fremdwort: „Die Menschen, die mit den Konsequenzen von Entscheidungen leben müssen, sollten die Entscheidungen treffen.“

Wie könnte eine gute Friedenspolitik für Afghanistan aussehen? Das müssen Afghanen beantworten. Irgendwann sind die Scheinwerfer der Weltöffentlichkeit nicht mehr auf Kabul gerichtet. Die Karawane der globalen Außenpolitik zieht weiter. Aber die Menschen bleiben. Wer etwas für sie tun will, sollte dieses Buch lesen.

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