Nach dem Abzug aus Afghanistan: Die große Lüge

Die Erzählung „westlicher Werte“ war lange populär, ist aber längst eine leere Phrase. Das zeigt nicht nur der Umgang mit der Situation in Afghanistan.

Heiko Maas presst die Lippen aufeinander

Heiko Maas bei seinem Statement zur Lage in Afghanistan, 16.08.2021 Foto: Christoph Soeder/dpa

Es fehlt so viel. Das ist schon lange so, aber gerade ist das Fehlen so laut, dass niemand mehr weghören kann. Es fehlt Verantwortung, Ehrlichkeit, Mut, Einsicht. Es fehlt Anstand, vor allem Anstand. Mir fehlen außerdem Wörter. Wie nennen wir das Stück, das der sogenannte Westen auf der geopolitischen Bühne aufführt? Die Heuchelnden? Die Schäbigen? Die Armseligen? Die Schande? Es ist unklar, ob diese Bezeichnungen noch etwas auslösen, sie wurden so oft in Münder genommen und noch öfter in die falschen. Trotzdem brauchen wir Worte für diese Zeit. Keine nie gesagten, denn alles wurde gesagt, immer wieder. Aber etwas, das wiederholt werden muss, damit das Entsetzen größer wird als die Gewöhnung.

Gerade habe ich eine Raufasertapete abgerissen. Ich kratzte das weiße Zeug von der Wand, es rieselte auf meine Füße und ich hoffte, dass hinter der Tapete etwas Schönes liegt, aber leider ist da nur Wand. Wie oft haben Sie Ihren Kopf dieses Jahr schon gegen Wände geschlagen? Ich sehr oft. Wir kratzen Tapeten ab und andere Verkleidungen, weil es nicht mehr anders geht. Es rieselt, wir finden nichts Schönes, nur Wände. Vielleicht passt „Die große Lüge“, denke ich. Die große Westliche-Werte-Lüge.

Westliche Werte. Die kommen doch vom Christentum und aus der griechischen Philosophie und von der französischen Revolution. Da sollten wir doch an Freiheit denken, und an Demokratie und Menschenwürde. Westliche Werte, die sollten doch der Gegenpol sein zu Diktaturen und Barbarei und, na ja, zum Nichtwesten. Das haben wir doch in der Schule gelernt und dann haben wir es wiederholt, immer wieder, ich auch, bis wir es für wahr gehalten haben. Der Westen ist gut, gutes Leben, gute Werte.

Stabiles Narrativ, populär wie ein Märchen. Aber jetzt brennt die Erde und sogar das Meer, Trump brüllte „America First“ und Biden flüstert es weiter, jetzt macht die EU Pushbacks im Mittelmeer, jetzt halten reiche Staaten Patente für Impfstoff zurück, jetzt sind lukrative Deals wichtiger als die dreckigen Westen ihrer Beteiligten, jetzt gewinnen Rechts­po­pu­lis­t:in­nen Mehrheiten in Europa, jetzt überlässt die Nato (Selbstverständnis: „Wertegemeinschaft freier demokratischer Staaten“) Afghanistan den Taliban, jetzt hebt ein Flugzeug ab, an das sich Menschen klammern, die Bundesregierung fliegt mit einem riesigen Flugzeug beim ersten Evakuierungsflug am Dienstag exakt sieben (!) Menschen aus Kabul aus. Jetzt trägt man wieder Phrasen über den Schutz von Frauen und Minderheiten als Schild vor sich her. Jetzt findet der Kanzlerkandidat der Union: „2015 darf sich nicht wiederholen“ – alles jetzt und schon wieder.

Mir rieseln weiße Flocken auf die Füße, als ich denke, dass es diese mit rechtsaußen kuschelnde Machterhaltsrhetorik ist, die sich nicht wiederholen darf. Dass sich nicht „Wertegemeinschaft“ nennen kann, wer Werte und Gemeinschaft verrät. Dass ein humanistisches Vakuum die erbärmlichste Antwort ist auf die Bedrohung von Freiheit und Menschenleben.

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Lin Hierse ist Redakteurin der wochentaz und Schriftstellerin. Ihr erster Roman 'Wovon wir träumen' erschien 2022 bei Piper. Zuletzt wurden ihre Kurzgeschichten in Das Wetter Buch für Text und Musik und Delfi Zeitschrift für Neue Literatur veröffentlicht.

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