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Es werden immer mehr Lieferdienste, die Berlins Fahrradwege verstopfen. Milliardenschwere Unternehmen arbeiten an einer Zukunft, in der wir Konsumenten auf Gorillas & Co. angewiesen sind. Die Fah­re­r:in­nen verdienen wenig. Die Arbeitsbedingungen sind mies. Doch Streiks und Arbeitskämpfe nehmen zu

Demo: Fah­re­r:in­nen von Deliveroo protestieren gegen die Arbeitsbedingungen bei dem Lieferdienst Foto: Christian Mang

Von Jonas Wahmkow

Hauptsächlich, Yuppies“, schätzt Fernando Bolaños seine Kundschaft ein. Manchmal sei es nur eine einzelne Avocado, die er anliefert, oder auch mehrere Sixpacks Bier, obwohl sich im Erdgeschoss ein Spätkauf befindet. Trinkgeld gebe es nur selten, aber das Fahrradfahren mache ihm Spaß. Der 35-Jährige trägt schwarze lockere Klamotten, auf dem Kopf die bei Fahrradenthusiasten beliebte Schirmmütze. Obwohl er gerade eine 8-Stunden-Schicht hinter sich hat, wirkt er kaum erschöpft. Bolaños ist „Rider“, also Fahrer, für den Online-Supermarkt Gorillas.

Das Treffen findet unweit seiner Arbeitsstelle statt, dem Gorillas Lagerhaus am Kaiserkorso, nahe dem ehemaligen Flughafengebäude Tempelhof. Das Lager ist im Erdgeschoss eines etwas höherwertig wirkendem Wohngebäudes untergebracht. Die Fenster sind mit blickdichter Milchfolie abgeklebt. Einige Produkte wie Chipstüten und Klopapier sind noch zu erkennen, das Treiben der „Picker“ genannten Lagerist:innen, die im Minutentakt die per App getätigten Bestellungen in braune Papiertüten packen, bleibt jedoch verborgen. „Nur Online Supermarkt“ steht auf einem ausgedruckten A4-Blatt, was als Warnung für unwissende Pas­san­t:in­nen an den Eingang des Lagers geklebt worden ist, die vielleicht doch auf die Idee kommen könnten, hier vor Ort einkaufen zu wollen.

Außer der Freude am Fahrradfahren hat Fernando Bolaños allerdings wenig Gutes zu berichten. „Die Arbeitsbedingungen hier sind wirklich schlecht“, erzählt er desillusioniert. Seit über sechs Monaten arbeitet er bei Gorillas. Während des Lockdowns im Winter verlor Bolaños seine Arbeit als Koch und fand einen Job in dem erst im vergangenen Jahr gegründeten Start-up. Seit dem Ablauf seiner Probezeit setzt er sich im Gorillas Workers Collective, einem selbstorganisierten Zusammenschluss von Beschäftigten, aktiv für bessere Arbeitsbedingungen bei dem Lieferdienst ein.

Im Stadtbild sind die schwarz gekleideten Fah­re­r:in­nen mit dem weiß-roten Logo längst unübersehbar. Dazu kommt eine aggressive Werbekampagne: Gefühlt gibt es kaum noch eine S-Bahn-Station, an der kein Gorillas-Plakat in Sichtweite hängt. Doch auch die Konkurrenz schläft nicht: Flink (Firmenfarbe pink) ist derzeit der etablierteste Mitbewerber, dazu kommt das türkische Vorbild Getir (lila-gelb), UberEats (grün) und seit August auch Foodpanda (leicht helleres Pink).

Es dürfte also bald nicht nur bunter, sondern auch deutlich voller werden auf Berlins Radwegen. Doch verstopfte Radwege werden wohl nicht die einzige Auswirkung sein, sollte es den Unternehmen gelingen, sich langfristig zu etablieren. Vieles spricht dafür, dass die Liefer-Start-ups unsere Städte nachhaltig prägen werden. Nicht nur das Stadtbild selbst, sondern auch wie wir in Städten in Zukunft konsumieren und arbeiten werden.

Das ist ein Anspruch, den das Unternehmen Gorillas selbst formuliert: „In Zukunft werden Kon­su­men­t:in­nen Lebensmittel nur noch dann kaufen, wenn sie diese unmittelbar brauchen“, antwortet ein Sprecher des Unternehmen auf Anfrage der taz, wie er sich die Zukunft vorstellt, in der Gorillas ein etabliertes Unternehmen ist. Gorillas-Gründer Kağan Sümer setzte im Marketing-Podcast OMR sogar noch einen drauf: „Wenn wir zum Mond fliegen können, sollten wir nicht zum Supermarkt gehen müssen.“

Übersetzt heißt das: Gorillas will nicht nur den Anteil der Bevölkerung erreichen, der jetzt schon zu faul oder zu überarbeitet ist, um in normalen Supermärkten einzukaufen, sondern will auch noch den Rest davon überzeugen, ihre Supermarkteinkäufe in Zukunft über das Smartphone zu erledigen.

„Die Geschäftsmodelle zielen auf eine Veränderung des Alltagsverhalten ab“, erklärt Moritz Altenried, der als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt Universität unter anderem zu Lieferplattformen forscht. So habe Delivery-Hero-Gründer Niklas Östberg in einem FAZ-Interview prophezeit, das Kochen in wenigen Jahren nur noch ein Hobby sein werde.

Tatsächlich ist die Zielgruppe immer noch die besser verdienende Mittelschicht, die aber möglichst bald ausgeweitet werden soll. Was den Start-ups bei ihren Ambitionen in die Hände spielt, ist die Tatsache, dass es für viele Menschen zunehmend schwerer wird, gleichzeitig ihren Beruf und alltäglichen Haushaltspflichten unter einen Hut zu bekommen – so argumentieren die Autoren des Sammelbands „Plattformkapitalismus und die Krise der sozialen Reproduktion“, der im Mai im Verlag Westfälisches Dampfboot erschienen ist. Wenn also der eigene Job zu stressig oder die Pflichten für Kindererziehung oder der Pflege von Angehörige zu überwältigend sind, dann können Delivery-Apps ein verführerisches Angebot sein.

Oder um es mit den Worten von Gorillas zu sagen: „Konsument:innen haben in ihrem dynamischen und flexiblen Lebensalltag weniger Zeit für den traditionellen Einkauf im Supermarkt, der Weg in den Supermarkt ist körperlich und gesundheitlich beschwerlich.“

„Ich glaube, am Ende ist es ihnen einfach egal“, sagt Fernando Bo­laños zu den Ankündigungen seines Arbeitgebers Gorillas, etwas an den Arbeitsbedingungen zu verbessern Foto: Christian Mang

Die Coronapandemie hat der Strategie der Lieferdienste, langfristig das Konsumentenverhalten zu verändern, enormen Vorschub verschafft. Während des Lockdowns wurden die Lieferdienste für Restaurants und Kun­d*in­nen quasi alternativlos. Die Onlinesupermärkte wurden zu einer infektionssicheren Alternative, um Lebensmittel zu kaufen. So verdoppelte Lieferando seinen Umsatz während der Pandemie. Auch für 2021 rechnet Lieferando laut Medienberichten mit weiteren Umsatzsteigerungen. Das ist nicht überraschend, da die Lieferdienste auf extremes Wachstum ausgelegt sind.

Doch Umsatzsteigerungen allein werden nicht ausreichen, um die Liefer-Start-ups profitabel werden zu lassen. Derzeit schreiben fast alle Unternehmen rote Zahlen. Tatsächlich ist es selbst Branchenriesen wie Rewe oder Edeka trotz jahrelangen Bestehens mit ihren hauseigenen Lieferdiensten nicht gelungen, auch nur einen Cent Gewinn zu erwirtschaften. So verabschiedete sich Edeka im Mai endgültig von seiner Liefersparte Bringmeister und gab diese an einen tschechischen Investor weiter.

Zwar werben Gorillas und Flink mit der Möglichkeit, auch nur einzelne Produkte im Notfall ordern zu können, doch um profitabel zu sein, müsste die durchschnittliche Bestellmenge deutlich steigen. Gorillas-Gründer Kağan Sümer selbst schätzt in dem OMR-Podcast, dass die durchschnittliche Bestellmenge auf rund 30 Euro steigen müsse. Derzeit liegt sie laut einem vom Wirtschaftsmagazin Capital veröffentlichten internen Firmenpapier noch bei rund 20 Euro.

Auch bei den Restaurant-Lieferdiensten sieht es nicht besser aus. So macht der Quasimonopolist Lieferando aufgrund der hohen Lohnkosten mit seiner hauseigenen Lieferflotte weiter Verluste. In einem Interview mit dem Magazin WirtschaftsWoche im April rechnet Lieferando-Gründer Jörg Gerbig vor, dass das Unternehmen pro Lieferung durch die festangestellten Fah­re­r:in­nen rund 8 Euro Verlust macht.

Warum pumpen also In­ves­to­r:in­nen Hunderte Millionen in Geschäftsmodelle, die, wenn überhaupt, nur schwer profitabel sein können?

Gorillas (Firmenfarbe schwarz) Das im Mai 2020 gegründete Berliner Start-up verspricht, Dinge des täglichen Bedarfs innerhalb von 10 Minuten direkt an die Haustür zu liefern – zu Supermarktpreisen. Bestellt wird per App, geliefert mit dem Rad unter dem Motto „Faster than you“. Möglich gemacht wird das durch ein engmaschiges Netz an Lagern, die sich direkt in den Kiezen in Nähe der Verbraucher befinden. In der letzten Finanzierungsrunde im März 2021 gelang es der Firma, 245 Millionen Euro von Investor:innen einzusammeln, sie gilt damit als „Unicorn“ – also ein Unternehmen, das mehr als 1 Milliarde Euro wert ist. Gorillas stellt Elektrobikes und seine Fahrer:innen fest an und zahlt 10,50 Euro.

Flink (pink) Ähnliches Geschäftsmodell wie Gorillas, hat ebenfalls 240 Millionen Euro bei der letzten Finanzierungsrunde eingesammelt. Flink ist eine exklusive Partnerschaft mit Rewe eingegangen, der das Start-up mit Produkten versorgt.

Lieferando (orange) Der international agierende Konzern Just Eat Takeaway ist nach der Übernahme von Foodora 2018 und dem Rückzug von Deliveroo 2019 der Marktführer unter den Restaurantlieferdiensten. Lieferando stellt eine Plattform bereit, über die die Restaurants ihr Essen verkaufen. Das Unternehmen behält dafür 13 Prozent Provision ein, die Fahrer:innen müssen die Restaurants selbst beschäftigen. Lieferando beschäftigt auch eigene Fahrer:innen, die für Restaurants Essen ausliefern, nimmt dann aber 30 Prozent Provision. Nicht Vollzeitbeschäftigte Fahrer:innen müssen ihr eigenes Fahrrad mitbringen. Auch Lieferando will bald ins Online-Supermarkt-Business einsteigen.

Wolt (hellblau) Seit August 2020 fordert der finnische Lieferdienst Wolt Lieferando heraus. Dafür sammelte Wolt zuletzt im Januar 440 Millionen Euro von Investor:innen ein. Anders als Lieferando stellt das Unternehmen alle Fahrer:innen selbst ein. Auch Wolt hat bereits angekündigt, in Zukunft auch Supermarktartikel zu liefern.

Foodpanda (pink, mit Panda): Eine weltweit agierende Marke von Delivery Hero, die in Berlin sowohl Essen als auch Supermarktartikel liefern will. Mit der Übernahme von Foodora durch Lieferando hatte sich das Unternehmen verpflichtet, zwei Jahre lang nicht mehr in Berlin aktiv zu sein. Foodpanda ist daher jetzt im August gestartet.

Uber Eats (hellgrün) Uber Eats ist die Liefersparte des Taxivermittlers Uber und erst im April in Deutschland gestartet. Bei Uber werden die Fahrer:innen nicht direkt angestellt, sondern über Subunternehmer, sogenannte Flotten.

Getir (lila-gelb) Das türkische Start-up hat das Gorillas-Geschäftsmodell bereits in Istanbul erfolgreich umgesetzt und liefert seit Juni in Berlin. (jowa)

„Es ist eine Wette auf die Zukunft“, erklärt der Soziologe Dominik Piétron, der ebenfalls an der HU zur Plattformökonomie forscht. Das Ziel für die An­bie­te­r:in­nen ist es, eine derartige Marktmacht zu erreichen, dass sie die Bedingungen zu ihren Gunsten bestimmen können. „Am Ende zahlen Rider* und Konsumenten die Zeche und müssen die hohen Verluste der Investoren ausgleichen – ob sie wollen oder nicht“, erklärt Piétron. Zudem können die stark subventionierten Preise dazu führen, dass lokale Versorgungsstrukturen wie Spätis und Lebensmittelläden wegbrechen. „Langjährig gewachsene Nahversorgungsstrukturen könnten verdrängt werden“, warnt der Wissenschaftler.

Plattformen sind häufig „Winner takes it all“-Märkte, erklärt Piétron, deren Geschäftsmodell nur dann funktioniere, wenn ein Anbieter eine marktbeherrschende Stellung, wenn nicht sogar ein Monopol erreicht – wie etwa bei der Fernbus-Plattform Flixbus. Bis dahin liefern sich die Anbieter einen erbitterten Konkurrenzkampf, indem Verluste auf Kosten des Wachstums gerne hingenommen werden. „Growth before profit“ – „Wachstum vor Profit“, heißt dieses Prinzip.

Delivery-Hero-Chef Östberg hat im Mai gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters angegeben, dass es 10 bis 15 Jahre dauern könnte, bis sein Unternehmen die marktbeherrschende Stellung übernommen und Profite abwerfen würde. Ob das am Ende so funktioniert, steht in den Sternen. Wichtiger ist ohnehin die Frage, ob die In­ves­to­r*in­nen daran glauben. Diese seien derzeit einfach zu überzeugen, ist Piétron sich sicher. „Die Reichen parken ihre wachsenden Vermögen auf den Kapitalmärkten“, so der Soziologe. Der Anlagedruck steigt, auch risikobehaftete Investments werden attraktiv.

„Plattformen wie Gorillas zeichnen sich im Wesentlichen durch ein schlankes Geschäftsmodell aus und den Versuch, Risiken auszulagern“, erklärt Moritz Altenried. Deshalb seien sie bei In­ves­to­r:in­nen beliebt. Lieferando bleibt dieser Idee am treuesten, da das Kerngeschäft zum größten Teil daraus besteht, eine Plattform für Essensbestellungen bereitzustellen und dafür die Provision zu kassieren. Die Lieferungen übernehmen die Restaurants in den meisten fällen selbst. Lohnkosten muss Lieferando nicht übernehmen, auch die Einhaltung der in kleinen Restaurants häufig missachteten Mindeststandards muss das Unternehmen nicht verantworten.

Gorillas ist dem Sinne eigentlich kein klassisches Plattformunternehmen mehr, da es die Warenlager in Eigenregie betreibt und seine Ar­bei­te­r:in­nen fest anstellt. Aber trotzdem folgt Gorillas in großen Teilen der Plattformlogik, indem es sich zum Amazon der Onlinesupermärkte aufschwingen will. Und wie alle Plattformunternehmen würde Gorillas nicht ohne ein Heer prekär beschäftigter und für das Unternehmen austauschbarer Ar­bei­te­r:in­nen funktionieren. „Die Plattformunternehmen bringen eine massive Ausbeutung der Ar­bei­te­r:in­nen mit sich“, kritisiert Katalin Gennburg, Sprecherin für Stadtentwicklung der Linksfraktion.

Pro Lieferung durch festan­gestellte Fah­re­r:in­nen rund 8 Euro Verlust

Von Berlin profitieren

Dabei profitieren die Lieferdienste vor allem von der Attraktivität Berlins, durch die immer noch junge Leute in die Stadt ziehen. Diese sind zwar gut ausgebildet, haben aber aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse oder nicht anerkannter Bildungsabschlüsse einen erschwerten Zugang zum Arbeitsmarkt. Lieferdienste stellen hingegen fast jeden ein, der Fahrradfahren kann. „Aus Sicht der Plattformen ist das ein perfektes Match“, erklärt Altenried, „ohne migrantische Beschäftigte sind solche Geschäftsmodelle nicht denkbar.“

„Für viele hier ist das der erste Job im deutschen Arbeitsmarkt“, meint auch Bolaños, der ursprünglich aus Mexiko kommt, und seit sechs Jahren in Berlin lebt. „Gorillas nutzt das aus, da viele ihre Rechte nicht kennen.“ So würden viele das 10-Kilogramm-Limit freiwillig nicht einhalten, weil sie Angst hätten, gefeuert zu werden, oder wüssten nicht, wie sie fehlerhafte Krankengeld- oder Lohnzahlungen beanstanden sollen. Dazukommt, dass viele Mi­gran­t:in­nen für ihr Visum auf den Job angewiesen sind und deshalb extra vorsichtig seien, erklärt Bolaños.

Gemäß der Logik, möglichst viele Risiken auszulagern, ist ein schnelles Kommen und Gehen der Ar­bei­te­r:in­nen wünschenswert. Schließlich sind Gewerkschaften, Betriebsräte und organisierte Ar­bei­te­r:in­nen der Albtraum eines jeden Start-ups. So ist auch die „feste Anstellung“ bei Gorillas mit Vorsicht zu genießen: Die Arbeitsverträge sind grundsätzlich auf ein Jahr befristet, innerhalb der sechsmonatigen Probezeit können die Angestellten ohne Angabe von Gründen gefeuert werden. Viel länger halten es aufgrund der widrigen Arbeitsbedingungen ohnehin die wenigsten aus. Zudem ist ein großer Teil der Rider über Zeitarbeitsfirmen beschäftigt.

Digitaler Kapitalismus Der jüngste Boom der Lieferdienste ist Teil eines größeren globalen Trends des digitalen Kapitalismus, der sogenannten Platt­form­ökonomie. Unternehmen wollen nicht nur Märkte erobern, sondern selbst Märkte sein. Plattformunternehmen nehmen dann im Idealfall nur noch die Rolle des Vermittlers zwischen Dienstleister und Konsument ein, an dem es dann aber kein Vorbeikommen mehr gibt. Der Taxivermittler Uber gilt als Idealtypus dieser Unternehmensform. Uber besitzt keine Autos, stellt keine Fahrer:innen ein, sondern vermittelt lediglich Fahrten von Selbstständigen Fahrer:innen an Kunden.

Kernaufgaben Plattformunternehmen nehmen zunehmend gesellschaftliche Kernaufgaben war und werden somit zu „unverzichtbaren Infrastrukturen des Alltagsleben“, wie es in „Plattformkapitalismus und die Krise der sozialen Reproduktion“, einem Sammelband des Dampfboot Verlags, heißt. Der Versandriese Amazon, der sich immer mehr als Plattform und Logistikunternehmen für Dritthändler versteht, ist ein eindrückliches Beispiel dafür, wie während des Lockdowns deutlich wurde. (jowa)

Umso erstaunlicher jedoch, dass es Bolaños und das Gorillas Workers Collective (GWC) trotzdem geschafft haben, sich zu organisieren. „Begonnen hat es während der Schneestürme im Februar“, erinnert sich Bolaños. Das Unternehmen hat zunächst von den Fah­re­r:in­nen verlangt, trotz des eisigen Wetters auszuliefern. „Da haben wir beschlossen zu streiken.“ Der Streik war der Gründungsmoment des GWC, einer selbst organisierten Gruppe von derzeit rund 30 aktiven Gorillas-Arbeiter:innen.

Im März brachte das GWC die Gründung eines Betriebsrats voran. Der erste Schritt, die Wahl eines Wahlvorstandes, wurde Anfang Juni geschafft – womöglich könnte es schon im September einen Betriebsrat geben. Ein Schritt, den Lieferando zum Beispiel in Berlin noch erfolgreich verhindern konnte.

Als etwas später im Juni dann einem Rider namens Santiago ohne Angaben von Gründen fristlos gekündigt wurde, kam es noch am selben Tag zu Arbeitsniederlegungen und Blockaden von mehren Warenlagern. In Folge der Proteste kündigte das Gorillas-Management eine Reihe von Verbesserungen für die Ar­bei­te­r:in­nen an, darunter die Einführung des Maximalgewichtes, ein verbessertes Feedbacksystem sowie das Versprechen, in Zukunft die Löhne korrekt auszuzahlen.

Gorillas will sich zum Amazon der Online­supermärkte aufschwingen

Für Bolaños sind die Ankündigungen nur Augenwischerei. So berichtet er, dass das Maximalgewicht in der Praxis nur selten eingehalten werde. Die aus billigen Material gefertigten Rücksäcke seien kaum dafür geeignet, regelmäßig die schweren Lieferungen zu transportieren. Wie viele seiner Kol­le­g*in­nen habe er schon seit Längerem Rückenprobleme.

Auch gebe es mittlerweile viele Fälle sexueller Belästigung durch Vorgesetzte, auf die das Management nicht reagiert. Die Regelmäßigkeit der Lohnzahlungen haben sich nicht verbessert, manchmal sei es zu wenig, manchmal zu spät. „Ich glaube am Ende ist es ihnen einfach egal“, vermutet Bolaños.

Dabei ist Gorillas bei Weitem kein schwarzes Schaf in der Branche. Hört man sich bei Ar­bei­te­r:in­nen von Flink, Lieferando und Wolt um, so wird klar, dass die Arbeitsbedingungen dort kaum besser sind. „Wir werden am laufenden Band verarscht“, formuliert es Max Müller, der eigentlich anders heißt, aber aus Angst vor Konsequenzen nicht mit seinem richtigen Namen auftreten will. Müller arbeitet seit drei Jahren für Lieferando und ist in der anarchosyndikalistischen Basisgewerkschaft FAU aktiv. „Ich wäre schon froh, wenn ich mal das Gehalt kriegen würde, was mir zusteht.“ Ständig gäbe es Abzüge, zum Beispiel wenn ein Fahrer während der Arbeitszeit nicht online ist.

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (rechts) sprach am 19. Juli mit Gorillas-Beschäftigten über ihre Arbeitsbedingungen, mit dabei Fernando Bolaños (links) Foto: Marcus Golejewski/AdoraPress

Es bleibt also noch viel Potenzial für zukünftige Arbeitskämpfe. „Von sich aus machen die nichts“, vermutet Müller. So seien die Festanstellungen der Rider ein Ergebnis einer erfolgreichen Klage gegen Deliveroo, das Gerichtsurteil stellte fest, dass die damals nach Stücklohn bezahlten „Selbständigen“ in Wirklichkeit scheinselbständig waren – und von daher Anspruch auf Sozial- und Krankenversicherung gehabt hätten.

Auch die Proteste der Gorillas zeigen langsam Wirkung. So besuchte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) am 19. Juli die Beschäftigten, um über ihre Arbeitsbedingungen zu reden. Heil versprach, sich mit dem Berliner Senat in Verbindung zu setzten, um die Einhaltung geltenden Rechts zu überprüfen. Tatsächlich wurden nun bei einer Ende Juli stattgefundenen Kontrolle der Senatsverwaltung für Arbeit und Soziales in 13 Warenlagern Mängel festgestellt, ein Bußgeldverfahren wurde bereits eingeleitet.

Organisierte Ar­bei­te­r:in­nen wie Bolaños sind also Sand im Getriebe der risikokapitalfinanzierten Start-up-Maschinerie. Ob gute Arbeitsbedingung langfristig im Plattformkapitalismus überhaupt möglich sind, wird sich noch zeigen müssen. Eine Frage, die sich aber erst später stellt: „Es mangelt zurzeit nicht an Geld“, schätzt Piétron die Situation ein. Gorillas will bei seiner nächsten In­ves­to­r:in­nen­run­de eine Milliarde Euro einsammeln.

Im Februar wurde verlangt, trotz des eisigen Wetters auszuliefern: „Da haben wir beschlossen zu streiken“, sagt Bolaños Foto: Hayoung Jeon/epa

Dabei sind die Ar­bei­te­r:in­nen nicht die einzigen, die den Verwertungsträumen der In­ves­to­r:in­nen etwas entgegensetzen können. Denn entgegen der unausweichlichen Rethorik der Start-up-CEOs und Marketinganalysten ist es nicht in Stein gemeißelt, dass sich die Lieferdienste in Berlin langfristig durchsetzen werden.

„Wir brauchen linke Gegenantworten“, sagt Gennburg. Dies könnten zum Beispiel kleine Lebensmittelgenossenschaften und lokale Märkte sein. Und falls geliefert werden müsse, könnten dies selbst organisierte Fahrer:innen-Kollektive übernehmen. „Diese Lösungen müssen wir gezielt öffentlich fördern“, schlägt Gennburg vor. Jonas Wahmkow