Demenzkranke vor Gericht: Vergessenes Verbrechen

Am Kieler Landgericht wird über eine Gewalttat entschieden, an die sich weder Täter noch Opfer erinnern können. Beide sind an Demenz erkrankt.

Ein Tisch mit zwei Gedecken, eines davon farblich strukturiert

Optische Hilfe: Sich auf Demenzkranke einzustellen, ist schon jenseits des Strafvollzugs schwierig Foto: Jens Büttner/dpa

KIEL taz | Ein mutmaßlicher Täter, der sich kaum an seinen Namen erinnert, ein mutmaßliches Opfer, das nicht vernommen werden kann – gehört so ein Fall vor ein Gericht? Und wie geht der Staat um mit Menschen, die Gewalt ausüben, ohne es zu wollen? Bei einem Prozess gegen einen Demenzkranken muss das Landgericht Kiel diese Fragen ausloben.

Eine Pflegerin begleitet Ernst Niemann (Name geändert) in den Verhandlungssaal mit den holzgetäfelten Wänden. Niemann, grauhaarig, schlank, Goldbrille, schaut sich um, scheint aber rasch das Interesse zu verlieren. Die Pflegerin führt ihn zur Anklagebank, wo der 83-Jährige folgsam Platz nimmt. Während der Verhandlung steht er einige Mal auf und will gehen, offenkundig ist ihm langweilig: „Wann hören Sie auf zu quatschen?“, fragt er den Richter.

Im Dezember 2020 soll Niemann, der in einem Pflegeheim in der Gemeinde Osdorf nahe Kiel lebt, eine Mitbewohnerin in seinem Zimmer schwer verletzt und gewürgt haben. „Das Zimmer war blutüberströmt“, beschreibt die für die Station zuständige Pflegekraft, die als erste ins Zimmer kam. Niemann habe wohl auf die Frau eingeschlagen, die sei „grün und blau, ganz verbeult“ gewesen, so die Zeugin.

Dann habe er offenbar versucht, die Frau aus dem Zimmer zu ziehen – an seinen Hosenträgern, die er ihr um den Hals geschlungen hatte. Eine „lebensgefährliche Handlung“, sagt die Staatsanwältin. Niemann habe den Tod der Frau, die ebenfalls an Demenz erkrankt ist, in Kauf genommen. Wäre sie gestorben, hätte Niemann „getötet, ohne Mörder zu sein“.

Sinnvolle Kommunikation unmöglich

Als der Vorsitzende Richter der 8. Strafkammer ihn fragt, ob er sich „zur Sache äußern“ möchte, sagt Niemann: „Jederzeit redet man mich an. Ich hab’ Leute, wo ich grade bin. Wir sind bisher ganz gut durchgekommen. Ich will Sie nicht verrückt machen.“ Mit zitternden Händen fasst er sich an die Stirn. „Okay“, sagt der Richter und gibt zu Protokoll: „Eine sinnvolle Kommunikation ist nicht möglich.“

Eben das mache aber auch einen Prozess unmöglich, sagt Axel Höper, der Niemann vertritt. Er ist überzeugt: „Wenn der Angeklagte nicht versteht, worum es geht, muss das Verfahren eingestellt werden, sonst wird er zum Objekt staatlichen Handelns.“ Allerdings sei diese Grundsatzfrage von Landgerichten unterschiedlich entschieden worden, sagt der Fachanwalt für Medizinrecht am Rand des Prozesses.

Für die Staatsanwältin geht es um die Frage, ob Niemann in der Forensik, also einer Haft für psychisch kranke Täter, unterzubringen sei. Im Raum steht eine Sicherheitsverwahrung nach dem PsychHG, dem Gesetz zur Hilfe und Unterbringung infolge psychischer Störungen, die angesichts von Niemanns Alter und Gesundheitszustandes wohl lebenslänglich wäre.

Denn nicht zum ersten Mal wurde der alte Mann handgreiflich: Berichte aus dem Pflegeheim und Krankenhäusern beschreiben, wie er mit seinem Handstock auf einen Nachbarn einprügelte, eine Pflegerin schlug, einen Pfleger grob wegstieß.

Doch ist eine forensische Anstalt, gesichert wie ein Hochsicherheitsknast und für Besuche schwer zugänglich, der richtige Ort für einen Demenzkranken? Und auf welcher Basis wird so ein Urteil gesprochen?

Klassische Methoden versagen

Die Frage ist über den Kieler Fall hinaus relevant: Rund 1,6 Millionen Menschen in Deutschland leiden unter Demenz, teilt die Alzheimer Gesellschaft mit. Jeden Tag kommen rund 900 dazu, im Jahr 2050 könnten rund 2,8 Millionen Demenzkranke in Deutschland leben. In einem späteren Stadium der Krankheit sind sie, wie Niemann, durch klassische Polizei- und Gerichtsmethoden kaum zu erreichen.

So wird sich nicht klären lassen, was an jenem Dezembertag geschah. Das mutmaßliche Opfer, das neben der Demenz eine weitere geistige Behinderung hat, wurde nicht einmal vernommen. Spuren konnte die Polizei nicht sichern, das Zimmer war bereits geputzt, als die Be­am­t*in­nen eintrafen. Offen ist, ob Niemann die richtigen Medikamente erhielt.

Sabine M., die den Witwer betreute, bevor er ins Heim kam, berichtet von Besuchen im Heim, bei denen Niemann „träge, schläfrig, zurückgezogen“ wirkte. Offenbar hatte ein Neurologe gegen den Willen von Niemanns Tochter und dessen langjährigem Hausarzt andere Medikamente verschrieben, dieser Konflikt blitzt in der Pflegedokumentation auf, die der Richter vorlas.

Am Montag wird der Gutachter, der den Prozess beobachtet und vor allem zu den Medikamenten nachfragte, seine Einschätzung abgeben, ein Urteil wird am kommenden Mittwoch erwartet. Für Ernst Niemann wird es wie aus heiterem Himmel fallen.

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