Perspektiven im Berliner Speckgürtel: Stahl und Ziegel

Industriebrachen und der Finowkanal als Lebensader: Eberswalde hat Perspektiven, und das nicht nur im aktuellen Jahr der Industriekultur.

Kultiviert seine industrielle Vergangenheit: Eberswalde Foto: Lars Wiedemann

BERLIN taz | Achtundfünfzig Meter ragt der Eberkran, kurz Eber, über die zwischen grüne Wälder eingebettete Stadt Eberswalde. Er ist sichtbares Wahrzeichen der brandenburgischen Stadt. Eine gewichtige Stahlkonstruktion, als Symbol für die industrielle Entwicklung, in der Maschinen und Bauten aus Eisen, Stahl und Ziegeln scheinbar für die Ewigkeit gebaut wurden. Das „Märkische Wuppertal“, wie die Stadt oft genannt wird, gilt als Wiege der Industrie in der Mark Brandenburg. Bereits im 17. Jahrhundert entstanden hier die Eisenspalterei, das Messingwerk mit seiner Siedlung, das Alte Walzwerk, die Papierfabrik und das Kraftwerk Heegermühle.

Lebensader der Stadt war der Finowkanal. Er diente zum Transport und zur Energiegewinnung. An ihm reihen sich die industriellen Bauten aneinander. Ein Architekturensemble, das teils verfallen und überwuchert ist. Der Weg entlang des Kanals ist heute eine Dornröschenidylle für Radfahrer, der Kanal eine historische Strecke für Paddler und Freizeitschiffer.

Der 400 Jahre alte Finowkanal ist die älteste künstliche und noch befahrbare Wasserstraße Deutschlands. Mit der Übernahme der zwölf Finowkanal-Schleusen vom Bund durch den Zweckverband Region Finowkanal ist die Schiffbarkeit des Kanals für Freizeitverkehr und Wassertourismus gesichert.

In der Umgestaltung von Industrieanlagen zu Freizeitparks, Wohn- und Kulturstätten will sich die Stadt eine neue Zukunft geben. Auch der Eberkran steht auf altem Industriegelände, das zu einem 17 Hektar großen Familiengarten umgestaltet wurde. Von der 38 Meter hohen Plattform des Krans blickt man auf die alten Produktionshallen des ehemaligen Kranbaus, die Ardelt-Werke. Im Zweiten Weltkrieg beschäftigte das Unternehmen tausende Zwangsarbeiter. Hier wurde in unterirdischen Hallen Kriegsgerät produziert. Ingenieure der Ardelt-Werke waren maßgeblich an Entwicklung, Produktion und Test der Rakete V2 beteiligt.

Die Stadt Eberswalde ist die Kreisstadt des Landkreises Barnim im Nordosten Brandenburgs. Mit seiner Industriegeschichte ist Eberswalde ein zentraler Ort beim Themenjahr 2021 vom Kulturland Brandenburg „Zukunft der Vergangenheit – Industriekultur in Bewegung“.

Das Kulturjahr Alle Infos zum Kulturlandjahr 2021 finden sich auf www.kulturland-brandenburg.de oder www.eberswalde.de, der Eintritt zu allen Kulturlandveranstaltungen der Stadt Eberswalde ist frei. (ed)

Ivonne Affeld und Benjamin Westphal führen durch den Familiengarten. „Was fällt Ihnen bei Eberswalde ein“, fragt Westphal eine größere Besuchergruppe. Heruntergekommen Industriestadt, reichlich Platte, schlagende Rechte, der rassistische Mord an Amadeu Antonio sind die bei allen gängigen Bilder. „Sie sehen“, sagt er, „es gibt viel zu tun.“

Die Gartenanlage ist gut besucht. Familien picknicken, Kinder turnen auf den Spielplätzen. Es gibt einen Asiatischen Garten mit Bonsais und einer Modelleisenbahn, einen Japanischen Garten, einen „Jesusgarten“ genannten begehbaren Wassergarten, einen Apothekergarten, Gastronomie und Veranstaltungsräumlichkeiten.

Daneben sind technische Anlagen und Bauwerke zu besichtigen, unter anderen das Blechenhaus, die Hufeisenfabrik, Reste des alten Walzwerks. Der Familiengarten wird für Open-Air-Konzerte auf der bis zu 4.000 Personen fassenden Freilichtbühne genutzt, Hallenkonzerte finden in der als Stadthalle genutzten Hufeisenfabrik statt.

Heute ist Tanzabend des Stadtfests FinE auf dem Platz des ehemaligen Walzwerkes im Familiengarten. Schuppi-duppi Tanzmusik und Elektrosound. Letzere ist eindeutig der Trend. Das DJ-Kollektiv Luckins hat seine Fans. Die Tanzfläche ist brechend voll. Unter dem Motto „Save your culture“ bespielten die Luckins zu Corona-Hochzeit Eberswalder Kulturorte und sammelten auf diesem Weg Spenden für diese ein. Die Videos sämtlicher DJ-Sets sind dafür über Youtube frei verfügbar.

„Es hat sich viel getan in Eberswalde,“ sagt Patrick Steppons, Gründer der Luckins und Save your culture. „Springerstiefel und Glatzen, das war gestern. Meine rechten Schulkameraden von damals sind in die Jahre gekommen. Man findet sie jetzt in der AfD.“

Patrick Steppons und seine Mitstreiter, Mathias Kienz und Philipp Heinze, sehen viel Potenzial in ihrer Heimatregion. „Rund um die Hochschule für nachhaltige Entwicklung sind nicht nur junge Studierende in die Stadt gekommen, sondern auch ganz neue Ideen und Impulse“, sagt Kienz. Zwar gäbe es immer noch vergleichsweise wenig Kneipen – von 77 vor der Wende sind vielleicht noch sieben übrig – aber es entstünden neue Orte. Etwa das Café & Bar Alte Post, oder eben Kulturorte wie die Borsighalle, die für Konzerte und Stadtevents genutzt wird.

Die Borsighalle gleich gegenüber dem Familiengarten ist eine elegante Konstruktion aus Holz und Stahl: Der Prototyp einer stützenfreien, beliebig erweiterbaren Hallenkonstruktion. Die Borsighalle wurde von 1847 bis 1849 in Berlin-Moabit errichtet. Sie diente als Vorbild für unzählige gleichartige Bahnhofs-, Fabrik- oder Ausstellungshallen in ganz Europa. Der Entwurf dazu stammte von August Borsig persönlich. Um 1900 wurde die Halle verkauft, abgebaut und auf den heutigen Standort am Finowkanal umgesetzt. Das imposante Stahlgerippe hat die Stadt schrittweise für über 2 Millionen Euro renoviert. Ein Bekenntnis zu ihrer Industriegeschichte.

Anfang Juni in diesem Jahr wurde hier direkt am Finowkanal das Themenjahr Kulturland Brandenburg eröffnet. Es beschäftigt sich mit „Zukunft der Vergangenheit – Industriekultur in Bewegung“ und führt zu Orten, die durch den Strukturwandel nach der Wende radikal betroffen waren. Arbeit und Leben etwa der Eberswalder wurden grundlegend verändert, zerüttet. Eberswalde muss sich neu erfinden. An der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde wird an zukunftsträchtigen Wirtschaftsformen geforscht. Preisgekrönte Innovationen, etwa auf dem Gebiet der Solarenergie, kommen aus Eberswalde.

Innovativ geht es auch auf dem Gelände des Rofinparks oberhalb des Familiengartens zu. Die ehmalige Rohrfabrik ist Sitz circa 80 gewerblicher und privater Mie­te­r. Einer der ältesten Mieter auf dem Hof ist der Afrikanische Kulturverein Palanca, der sich nach dem rassistischen Mord an Amadeu Antonio 1990 gründete. Auch das DJ-Kollektiv Lukins und der Verein Save Your Culture sind hier ansässig.

Ein Flötenchor

Publikumsmagnet ist die 1.000 Quadratmeter große Boulderhalle samt schönem Café. Es gibt große Mieter wie den Elektrofachhandel Obeta oder den Malerfachbetrieb Brillux. Handwerker, Musiker, ein Flötenchor. „Der breite Mix mag auf den ersten Blick konzeptionslos wirken, ist aber beabsichtigt“, sagt Sarah Polzer-Storek, die Besitzerin des Geländes. Aus betriebswirtschaftlicher Sicht sorge dies für eine Risikostreuung. „Während der Pandemie hat es sich als folgerichtig erwiesen und bewahrt den Rofinpark auch in dieser schwierigen Zeit vor einem breiten Mietausfall“, sagt sie.

Ihr Mix biete gleichzeitig Potential für Synergieeffekte und Kooperationen innerhalb der Mieterschaft. Nicht zuletzt werde durch diese Vielfalt einer Gentrifizierung vorgebeugt. Immer mehr Berliner Un­ter­neh­me­r*in­nen kämen nach Eberswalde, etwa der Kreuzberger Holzrestaurator Eberhard Roller, die Jurtenbauerin Angelika Barall oder die Kaffeerösterei Firstcrack Coffee Roasters.

„2009 habe ich die Verantwortung für den Rofinpark übernommen, 30 Jahre alt und ohne Erfahrung. Das Interesse für solche Objekte war überschaubar, Eberswalde verlor jährlich Ein­woh­ne­r*in­nen“, erzählt Polzer-Storek beim Rundgang über das Gelände.

Die engagierte Grüne setzt sich seit Jahren politisch für den Umwelt- und Naturschutz ein. „Industrie- und Gewerbeflächen machen rund ein Fünftel der Siedlungsfläche in Deutschland aus. Sie spielen daher eine wichtige Rolle, wenn es um die Umsetzung von Konzepten zum Klimaschutz geht. Wir verbinden die nachhaltige Entwicklung des Gewerbeparks mit unternehmerischer Verantwortung und nehmen zum Beispiel unsere gesellschaftliche Verantwortung ernst, indem wir lokale Vereine mit besonderen Konditionen und fairen Mieten unterstützen“, sagt sie. Das Themenjahr Industriekultur begrüßt Polzer-Storek ausdrücklich. „Es gibt dem historischen Vermächtnis endlich den Stellenwert, den es verdient.“

Vom Rofinpark und Familiengarten ins Zentrum der Stadt zieht sich die Bundesstraße vier Kilometer. Der Bandstadtcharakter einer langgezogen Stadt mit aufgelassen Fabrikanlagen, Plattenbauten und Einkaufszentren entlang des Finowkanals ist eine städtebauliche Herausforderung und wenig attraktiv.

Das Zentrum mit kleinem Altstadtkern ist renoviert. Auf dem Marktplatz steht das vielfach für seine Nachhaltigkeit ausgezeichnete Paul-Wunderlich-Kreisverwaltungsgebäude. Am Finowkanal wurden Parks angelegt. Hotellerie ist fast nicht existent in Eberswalde. Den kulinarischen Ruf der Stadt retten die Vietnamesen. Das Hoi An in einem Fachwerkhaus im historischen Altstadtkern gleich am Marktplatz hat einen schattigen Garten und geschmackvolle Inneneinrichtung. Und vor allem schmackhaftes Essen.

Anne Fellner, Baudezernentin

„Eberswalde ist nicht niedlich. Es hat Spannung und einen rauen Charme“

Nicht weit davon steht die ehemalige Forstkademie, die heute Hochschule für nachhaltige Entwicklung heißt. Sie wirkt auf die Stadtentwicklung. „Wir wollen ein nachhaltiges und sozial verträgliches Wachstum für Eberswalde“, sagt Anne Fellner, Baudezernentin der Stadt. Darüber gebe es einen konstruktiven Dialog in der Stadtverwaltung.

„Eberswalde ist eine Stadt in der zweiten Reihe im Berliner Umfeld. Der Speckgürtel um Berlin ächzt mittlerweile unter seinen Wachstumssorgen. Die Städte in der zweiten Reihe sind für viele attraktiv“, sagt Fellner. Die Stadt wachse wieder. „Wir wollen die Entwicklung gestalten. Welche soziale Mischung wünschen wir uns? Was für Wohnangebote machen wir?“, sagt sie. Ziel sei weniger klassische Einfamilienhäuser. „Wir wollen als gut erreichbares Mittelzentrum mit der Bahn verdichtete Wohnangebote im Zentrum der Stadt anbieten.“ Es gibt eine Holzbauinitiative für kommunale Bauten. Gerade entsteht am Bahnhof ein großes Fahrradparkhaus in Holzbauweise.

„Wenn ich Vorstellungsgespräche in meinem Dezernat habe, frage ich immer: Finden Sie Eberswalde schön?“, sagt Fellner. „Jemand, der ja sagt, macht sich unglaubwürdig. Eberswalde ist nicht niedlich. Es hat Spannung, einen rauen Charme.“

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