Koalitionsoptionen nach der Wahl: Experiment mit Potenzial

Eine Ampelkoalition könnte die Grünen zur Kanzlerschaft bringen – und funktionieren: Leistung, Ökologie und soziale Gerechtigkeit passen zusammen.

An einem Mobile hängen ein Baum, Euro und eine Waage

Beim Thema soziale Gerechtigkeit scheinen die Gräben unüberbrückbar – aber sind sie das wirklich? Illustration: Jeong Hwa Min

Auch den Letzten dürfte die Flutkatastrophe die Augen geöffnet haben: Erdüberhitzung und Klimawandel sind nicht nur zu diskutieren, sondern bedürfen energischer politischer Entscheidungen. Eine Aufgabe, der sich die Bündnisgrünen seit Jahrzehnten zuwenden und die sie jetzt federführend anpacken könnten. Wenn da nicht das Problem wäre, dass die Überquerung der Ziellinie vor der Union im September äußerst unwahrscheinlich geworden ist.

Und gehen sie im Herbst tatsächlich nur als zweite Sieger vom Platz, dann müssten sie entweder in einer schwarz-grünen Koalition den Kellner geben – oder anderweitig an die Kochhaube kommen. In einer grün geführten Ampelkoalition könnte dies durchaus der Fall sein. Sie würde die Chance eröffnen, eine sozialökologische Transformation tonangebend und nicht nur als Juniorpartner zu gestalten.

Warum wird diese Möglichkeit nicht ausgiebiger in Erwägung gezogen? Eine zentrale Ursache liegt sicherlich darin, dass sich die Ökopartei und die „Freien Demokraten“ – der Freud’sche Versprecher Baerbocks („liberale Feinde“) lässt grüßen – in keiner Weise grün sind. Weder habituell noch inhaltlich. Erstaunlicherweise jedoch weniger in ökologischen Zielsetzungen – auch wenn die Liberalen eher auf einen marktwirtschaftlichen, technisch orientierten Klimaschutz setzen, der Innovationen in den Mittelpunkt rückt.

Beim Thema soziale Gerechtigkeit scheinen die Gräben aber unüberbrückbar: Die Frage, wie man diesen „neoliberalen Porschefahrern“ abnehmen könnte, an Verteilungsgerechtigkeit interessiert zu sein, wird regelmäßig erwidert mit der Gegenfrage, wie man diesen „neidgetriebenen Eat-The-Rich-Öko-Müslis“ abkaufen soll, sie würden das nicht verhandelbare Leistung-muss-sich-lohnen-Prinzip je respektieren.

Es gibt einen Weg

Eine Politik, die zugleich materielle Ungleichheiten reduziert, das leistungsorientierte Anreizsystem des Marktliberalismus achtet und dann auch noch auf Klimaschutz ausgerichtet sein soll, erscheint allen Beteiligten so aussichtslos wie die Quadratur des Kreises. Gibt es aber wirklich keinen Weg, Leistung, Ökologie und soziale Gerechtigkeit zusammenzubringen? Die Antwort lautet: Es gibt ihn sehr wohl.

Um zu zeitgemäßen Modellen für eine solche Politik zu gelangen, schadet ein kleiner Ausflug in die Anfangszeit der Kohl-Ära nicht. Kaum hatte der Pfälzer mit den Liberalen 1982 der SPD die Kanzlerschaft abgeluchst, rückte das fast nebensächliche Feld der Studienförderung zügig in den Fokus des politischen Gestaltungsinteresses.

Die leistungsorientierte Umgestaltung des BAföG war für die „bürgerliche“ Koalition von immenser Bedeutung: Die typisch sozialdemokratische Unterstützung für sozial unterprivilegierte akademische Aufsteiger, die ursprünglich als Vollzuschuss vergeben wurde, sollte auf Effizienz getrimmt werden. An den des Müßiggangs und Langzeitstudierens verdächtigten „Arbeiterkindern“ wurde daher ein Exempel statuiert: keine Sozialtransfers mehr, ohne Meriten zu erbringen.

Die Förderung stellte man dazu auf Volldarlehen um. So konnten sich die Schulden am Ende des Studiums auf bis zu 70.000 Mark summieren. Wer es allerdings in der Regelstudiendauer zum Abschluss schaffte, zu den besten 30 Prozent seines Jahrgangs gehörte oder das Darlehen schneller als vorgesehen zurückzahlte, bekam ansehnliche Rabatte. Wenn man so will, sollte eine leistungskonforme Gerechtigkeit erzwungen werden.

Von Kohl lernen

Lässt sich das auf größere Handlungsfelder einer möglichen Ampelkoalition der Gegenwart übertragen? Betrachten wir dies an einem konkreten Beispiel: Die soziale Frage, zu der unter anderem die massive Ungleichheit der Vermögensverteilung und in den meisten Städten die Not, bezahlbaren Wohnraum zu finden, gehört, wird zunehmend auch im bürgerlichen Lager debattiert. Sie sorgt dort zu Recht für nachvollziehbares Grübeln, ob der reaktionäre Rechtspopulismus damit nicht in Verbindung steht.

Zudem breiten sich Sorgen aus, dass die Habenichtse „euren geschminkten Frauen und euch und den Marmorpuppen im Garten eins über den Schädel hauen“, wie es Erich Kästner 1930 in seinem Gedicht „Ansprache an die Millionäre“ beißend formulierte. Kurzum, auch die FDP hat ihr wohlverstandenes Eigeninteresse entdeckt, die Vermögenspolarisierung und die Wohnungsnot nicht noch weiter anwachsen zu lassen.

Wie könnte aber hier ein Lösungsansatz aussehen, der sozialökologischen und zugleich marktliberalen Zielsetzungen entspricht? Am Beispiel der Erbschaftssteuer auf Firmen lässt sich das aufzeigen: Diese teilweise immensen Hinterlassenschaften sind am wenigsten über den Erfolg individueller Leistung der Erben begründbar. Die Ampelkoalition könnte daher die Erbschaftssteuer auf große Vermögen deutlich erhöhen und bei Betriebsnachlässen festlegen, dass die Steuer in Form einer passiven Teilhaberschaft – also ohne jegliches unternehmerische Mitspracherecht – umgesetzt wird.

Damit wäre zunächst einmal der Vorwurf, dem Betrieb würde durch den Staat zu viel Liquidität entnommen, der Boden entzogen. Denn als Mitbesitzer würde dieser weder Unternehmenskapital beanspruchen noch sich in die Geschäfte einmischen. Eine solche „stille Teilhabe“ berechtigte ihn jedoch dazu, regelmäßig einen Gewinnanteil einzuziehen.

Rabattanreize mit sozialem oder ökologischem Charakter

Es ist deswegen davon auszugehen, dass die allermeisten Firmeneigner, auch wenn sie den Betrieb „nur“ geerbt haben, die Staatsbeteiligung als einen „Stachel im eigenen Fleische“ betrachten, der baldmöglichst zu entfernen ist. Der leistungsorientierte und marktbasierte Ansatz würde Regeln schaffen, wie die weiterhin unternehmerisch tätigen Erben den „unliebsamen Partner“ so schnell wie möglich wieder loswerden können.

Wie ginge das vonstatten? Neben dem schnöden Bezahlen der Erbschaftssteuer und dem Abkaufen der stillen Anteile – je schneller, desto höher wären die Rabatte – könnte man analog zu den Kohl’schen BAföG-Regeln Rabattanreize schaffen, die sozialen oder ökologischen Charakter haben. So ließen sich etwa Investitionen in dauerhaften nachhaltigen Sozialwohnungsbau oder in Biodiversität erhaltende Projekte gegenrechnen.

Belohnt würden auch eine beschleunigte Hinwendung zu Klimaneutralität und nachhaltigem Wirtschaften. So könnte das auf Drangsalierung von Bildungsaufsteigern setzende Kohl’sche Modell doch noch einen positiven Nutzen bekommen. Und die FDP könnte zudem ihrer Vorliebe für Steuersparmodelle frönen.

Die Furcht vor einem immensen Verwaltungsaufwand ist nicht abwegig. Aber am Beispiel der BAföG-Reform wissen wir auch, dass klar definierte und pauschalisierte Rabatte diesen in Grenzen halten können. Was bei ein paar Tausend Studierenden in den analogen 80er Jahren möglich war, wird in den digitalisierten 20er Jahren mit ein paar Tausend Unternehmensnachlässen nicht unmöglich sein.

Erbschaftssteuer für genossenschaftlichen Wohnungsbau

Wie könnte ein leistungsorientierter und sozialökologischer Ansatz aussehen, von dem Menschen profitieren, die keine Unternehmenserben sind und zuweilen große Schwierigkeiten haben, über die Runden zu kommen? Der Anteil der Erbschaftssteuer, der nicht sozialökologisch kompensiert, sondern realiter bezahlt wird, müsste samt den Gewinnanteilen aus den stillen Beteiligungen in genossenschaftlichen Wohnungsbau investiert werden. Dieser hätte den höchsten ökologischen Anforderungen zu entsprechen, die Mieten wären einkommensabhängig.

Für Menschen, die nicht in eigenen Immobilien leben, könnte zusätzlich ein leistungsorientiertes Anreizsystem geschaffen werden: Mit der gezahlten höheren Erbschaftssteuer würde etwa ein – gerne auf Nachhaltigkeit setzendes – staatlich verwaltetes Fondssparen gefördert. Beiträge der einzahlenden weniger Begüterten werden dabei vervielfacht, was einen immensen Leistungsanreiz zur Vermögensbildung erzeugen würde.

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Je geringer das Einkommen, desto höher müsste der Vervielfachungsfaktor ausfallen. Ein solcher Fonds wäre rein zweckgebunden und nicht vorab auszahlbar: Nach Eintritt ins Rentenalter würde damit zum Beispiel eine lebenslängliche drastische Mietreduzierung, im Idealfall sogar eine Mietfreiheit gewährleistet. So ließe sich Altersarmut nicht gänzlich abschaffen, aber sicherlich stark reduzieren.

Wieso hört man aber nicht mehr von solchen keineswegs utopischen Debatten? Vermutlich wird selbst in der Ökopartei die Chance auf eine Ampelkoalition als sehr gering eingeschätzt. Sei es, dass die in jeder Koalitionsvariante vor sich hin schrumpfende SPD als des Regierens überdrüssig eingeschätzt wird. Sei es, dass eine pragmatische Überzeugung vorherrscht, mit den Schwarzen eine bessere Klimapolitik hinzubekommen – selbst wenn man nur Little Brother spielen darf – als mit zwei schwierigen kleinen Geschwistern.

Lindner lässt Spielräume offen

Sei es, dass die Grünen einfach nicht den dringenden Willen haben, die notwendigen und harten Veränderungen politisch zu verantworten. Oder sei es schließlich, dass gemutmaßt wird, mit der FDP würde eh kein Schuh daraus, weil diese sich spätestens in Koalitionsverhandlungen wieder verdünnisierte. Letzteres ist nach dem Sommerinterview von Lindner jedoch gar nicht so sicher: Er sieht zwar keine „hinreichenden Gemeinsamkeiten für ein Ampelmodell“, redet aber immerhin von einem „fiktiven Szenario“, welches er als „reine Spekulation“ kleinreden möchte.

Gleichzeitig betont er aber immer wieder den auf das Regieren abzielenden liberalen Gestaltungswillen und hält die Für-uns-zählen-Inhalte-Fahne hoch. Seine Formulierung, die FDP habe sich „koalitionspolitisch noch nicht abschließend festgelegt“, lässt also genügend Spielräume, auch für eine grün geführte Ampel, offen.

Ende September werden wir sehen, ob es für eine Ampel reicht, und falls ja, wie dann die Akteure realiter entscheiden werden. Dass es zu einer solchen Koalition kommt, ist unwahrscheinlich. Gleichwohl wünsche ich mir mehr Nachdenken über das Ausbalancieren von Freiheit, Gleichheit und Ökologie sowie über die Gestaltungsmöglichkeiten eines solchen Zweckbündnisses. Spannend wäre sein Zustandekommen allemal.

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lehrt Politik­wissenschaft und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Er lebt in Stuttgart – und das sehr gerne.

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