Nautilus-Gründerin über ihr Arbeitsleben: „Es war schön, aber auch die Hölle“

Jahrzehntelang verantwortete Hanna Mittelstädt den Hamburger Verlag Edition Nautilus. Dann verschenkte sie ihn an ihr Team.

Hanna Mittelstädt sitzt vor einem Bücherregal.

Arbeitet nun selbst als Schriftstellerin: Hanna Mittelstädt Foto: Miguel Ferraz

taz: Frau Mittelstädt, wie schaffen Sie es, Ihre Nachfolgenden einfach machen zu lassen, im Verlag Edition Nautilus, den Sie gegründet haben?

Hanna Mittelstädt: Ein schönes Thema. Denn ich bin voller Freude ausgestiegen. Bei mir ist es ja speziell: Ich habe schon mit 21 Jahren angefangen, in diese Mühle hineinzuwachsen, zusammen mit Lutz Schulenburg und Pierre Gallissaires. Wir haben uns um die Jahreswende 1971/72 im Hamburger Anarchisten-Keller kennengelernt.

Der war wo?

Im Karolinenviertel, in der Karolinenstraße, Ecke Marktstraße. Dort im Keller traf sich die Subkultur und einmal in der Woche kam die Anarcho-Gruppe zusammen. Schwarz! Alles war schwarz gestrichen.

Was hat Sie verbunden?

Pierre war 20 Jahre älter, er war Anfang 40. Er hatte 1968 den Pariser Mai mitgemacht, war so frustriert von seiner Niederschlagung und wollte nicht mehr in Frankreich leben. Er wollte einen Bruch in seinem Leben. Und nun hatte er die jungen anarchistischen Genossen in Hamburg aufgesucht und dachte: Hier gibt es noch einiges zu tun, die wissen ja gar nichts!

Da muss mal Grund rein!

Sehr gut gesagt. Da musste mal Grund rein … Bei Lutz traf er sofort auf absolute Liebe, der hatte gerade seine Prüfung als Dekorateur nicht bestanden. Er hat eigentlich alle Prüfungen nicht bestanden, der erste Bildungsweg war bei ihm gescheitert und er fand es super, dass es eine neue Möglichkeit gab, zu lernen. Die beiden haben gleich gesagt: Wir müssen unbedingt veröffentlichen. Texte der Räte-Kommunisten, Texte der Situationisten, es war eine große Lust, die Traditionslinien wieder zu entdecken, die in Deutschland auch durch den Faschismus zerstört worden waren.

Warum war gleich das Veröffentlichen so wichtig?

Pierre war Deutschlehrer gewesen, er sprach akzentfrei Deutsch, er liebte auch die deutsche Sprache, und er liebte es, von der einen in die andere Sprache zu wechseln und zu schauen, wie das geht. Für Lutz war die Entdeckerfreude so groß und die Frage war: nur diskutieren? Da muss doch mehr sein. Sie haben angefangen mit einer kleinen Zeitschrift, mit Broschüren, alle selbst kopiert. Ein Verlag als solcher war zunächst nicht im Blick. Es ging darum, Dokumente für die Bewegung, für die Genossen und Genossinnen zur Verfügung zu stellen. Wobei man sagen muss: Meistens für die Genossen, denn es waren wenig Frauen dabei.

geboren 1951 in Hamburg, gründete mit dem Verleger Lutz Schulenburg 1974 die Edition Nautilus, einen der führenden linken Verlage, aber mit Blick auf wilde Kunstströmungen wie die Situationisten oder die Surrealisten. Frisch erschienen ist ihr Roman „Blue“ im Konkursbuchverlag.

Das Politische wurde auch privat, oder?

Lutz und ich haben uns gleich ineinander verguckt. Nach 14 Tagen wurden wir ein Paar, nach weiteren 14 Tagen zogen wir zusammen.

So schnell?

Ja. Und dann gab es bei uns in der Wohnung einen großen Tisch und da wurde verlegt. Lutz ist in einen linken Buch-Vertrieb gegangen und ich in eine linke Buchhandlung, in ein Kollektiv, beide in der Unigegend. Und da haben wir uns langsam professionalisiert.

Wie macht man das, Bücher?

Es war damals so, dass die ganz Jungen einfach mitgenommen wurden von denen, die schon etwas mehr wussten. Wir haben uns nicht hingesetzt und gesagt: Wir machen jetzt einen Verlag und melden uns als erstes beim Handelsregister an.

Sie sind nicht zur Handelskammer gegangen und haben sich beraten lassen?

Das haben wir zehn Jahre später gemacht, da hatten wir also schon geübt. Ich habe dann ein Existenzgründungsdarlehen über die Handelskammer aufgenommen, denn wir wollten damals den Schritt machen, vom Verlag zu leben. Das haben wir am Anfang nicht gemacht.

Langsam kamen die Erfolge?

Wir hatten viele mittelprächtige Erfolge. Unser erster richtiger Erfolg war ‚Dinner for One‘. Da haben wir, in Absprache mit dem NDR-Fernsehen, den Text in Buchform publiziert, das war ein Coup und verkaufte sich eine Zeitlang super.

Dann kam der Krimi „Tannöd“.

Eine Million verkaufte Exemplare! Also 500.000-mal als Hardcover, dann 500.000-mal als Taschenbuch, dazu Nebenrechte jeder Art. Damit konnten wir das Haus kaufen, in dem jetzt unten im Erdgeschoss der Verlag ist und in dem oben die Wohnung ist, in der wir jetzt sitzen. Dieser Erfolg war ein Geschenk, war wirklich ein Glücksfall, denn wir hatten darauf nicht spekuliert. Aber dann war der Erfolg auch sehr anstrengend für unseren kleinen Verlag.

Was war schwierig?

Wir waren nicht auf einen Beststeller vorbereitet, der monatelang auf den Bestseller-Listen stand. Wir hatten weder die Manpower noch die digitale Ausrüstung, das allein vertriebstechnisch zu stemmen. Wir machten ja das meiste händisch, wir hatten die einfachste Buchhaltung. Es war der helle Wahnsinn – und so war dieser Erfolg auch eine Art Fluch.

Inwiefern?

Ich weiß noch ganz genau, wie ich hier auf dem Balkon saß und sagte: Lutz, wir müssen jetzt mal langsam raus! Denn ich hatte eigentlich so gut wie nie Freizeit. Ich musste mir alles andere aus den Rippen schneiden – wenn ich mal zum Chor wollte oder mal wandern wollte. Ich habe tagsüber die Verwaltung gemacht und abends oder am Wochenende die Lektorate. Manchmal bestand das Lektorat darin, dass man aus lauter dilettantischen Vorgaben versuchte, etwas zu bauen, aus Übersetzungen von Freunden – und dann allein die Umfänge: Unsere Durutti-Biografie umfasst fast 1.000 Seiten, die von Che Guevara immerhin 600 Seiten, das entsprechend zu lektorieren, das ist wirklich Arbeit.

Der Bruch, der Einschnitt, Anfang Mai 2013, war dann sehr hart?

Aufhören, abgeben, Lutz konnte das nicht. Er hatte eine Gehirnblutung und ist ein paar Wochen danach gestorben. Für mich war sofort klar: Ich mache diese Arbeit auf keinen Fall immer so weiter. Lutz und ich haben immer alle Entscheidungen mit den anderen zusammengetroffen. Nun hatte ich den Verlag geerbt und ich habe zu unseren vier Mitarbeiterinnen und dem einen Mitarbeiter gesagt: ‚Ich bin jetzt nicht eure Chefin, ich habe keine Lust dazu, ihr macht das sowieso und ihr könnt das jetzt haben‘, und ich habe ihnen den Verlag einfach so übergeben – habe ihn ihnen geschenkt.

Das ist nicht selbstverständlich, dass die Nachfolgenden auch wirklich uneingeschränkt das machen können, was sie machen wollen.

Es gab eine Übergangszeit, bis die neue GmbH gegründet wurde. Wir haben noch gesagt: ‚Ach, ich könnte doch Senior Publisher sein.‘ Aber ich muss dir sagen: Wenn man das Verlegen so persönlich genommen hat wie wir und wie ich, da ging das nicht. Das war mir auch zu schmerzhaft, zu sehen, wie anders es die andern machen.

Was machen denn die jungen Verlegerinnen anders?

Da fällt um 18 Uhr der Stift. Da gibt es Urlaubszeit. Es gibt ein geregeltes Gehalt, die sind angestellt.

Das kannten Sie nicht?

Nein. Und ich habe schnell gemerkt: Am besten lasse ich sie einfach machen. Sie bekommen den Verlag geschenkt, und ich bekomme als Geschenk, dass sie den Verlag übernehmen. Ich bin dabei, eine Stiftung zu gründen, die sich um die Traditionslinien des alten Verlags kümmern wird, die Lesungen, Aufführungen, vielleicht Tagungen veranstaltet. Mir wichtige Bücher aus dem einstigen Nautilus-Programm werde ich woanders unterbringen, sofern sie nicht bei der neuen Nautilus bleiben können – die neue Crew ist also wirklich frei.

Was geschah danach?

Ich bin geradezu explodiert vor Aktivität. Ich habe Lesungen veranstaltet, mit den mir wichtigsten Autoren aus unserem Programm. Ich habe tolle Schauspieler kennengelernt, wie Jörg Pohl und Corinna Harfouch, und habe einige Autoren und vor allem die Inhalte noch mal in einer anderen Form der Öffentlichkeit vorgestellt, im Theater, szenisch. Robert Stadlober hat Franz Jung in einer Revue im HAU in Berlin gespielt, die Band Die Sterne hat dazu Musik gemacht, nur als Beispiel. Es waren tolle Aufgaben für mich.

Fragen Sie sich manchmal: Wie haben wir das all die Jahre bloß geschafft, rein kräftemäßig?

Ich erinnere mich sehr genau, dass wir immer am Limit waren und ich oft auch an meinem persönlichen Limit. Und die Unprofessionalität, auf die ich stoße, wenn ich zurückblicke, die ist hin und wieder schwer erträglich. Ich weiß nicht, ob die jungen Leute das heute auch noch so machen würden. Ob die nicht gleich zur Handelskammer gehen und die Regeln einhalten. Wir haben ja auch versucht, unsere eigenen Regeln zu schaffen.

Nichts aus der Hand geben, alles selbst regeln, hat das einen Preis?

Ich sitze an unserer Verlagschronik, schaue immer wieder in die knapp 40 Korrespondenz­ordner, wo auch all die Konflikte abgebildet sind: die zwischen Verlag und Autoren, zwischen Verlag und Vertrieb. Die Vertriebe gingen bei uns reihenweise pleite, die Konflikte zwischen Verlag und den Vertretern. Und ich lese da, wie wir all die Konflikte nie professionell zu lösen versuchten, sondern immer persönlich. Wir trafen uns in unseren kleinen Räumen, mit selbstgemachtem Kartoffelsalat, alle rauchten und alle soffen, was das Zeug hielt – das war schön und war natürlich auch die Hölle. Aber: Wir konnten unsere „emotionalen Wallungen“ nicht ausschalten. Und die trage ich jetzt in meine neuen Projekte.

Es geht also weiter?

Ich werde jetzt ja 70 und bin wahnsinnig froh, dass ich nun wirklich etwas anderes machen kann. Ich finde es für Lutz schade, dass er es nicht konnte. Andererseits: Er kam so von unten. Er hatte in Deutsch eine Fünf, er war Legastheniker, er ging in Hamburg-Bergedorf in eine provinzielle Volksschule, wo die Lehrer noch mit Schlüsseln warfen und wo er nur der schlechte Schüler war. Und dann hat er so viel gelernt, wurde erst der rebellische, aber dann der anerkannte Verleger, den die Kollegen ehrfürchtig fragten: 'Herr Schulenburg, Ihre verlegerischen Erfolge, wie haben Sie die hinbekommen?’ Diese Rolle hat er sehr genossen.

Man muss ein gutes Fundament haben, um einen neuen Weg einzuschlagen?

Mir fällt es wirklich leicht, abzugeben, aber mir ist auch bewusst, dass ich aus einer anderen Situation komme: Meine Eltern waren zwar keine Akademiker, aber sie gehörten zu denen, die nach dem Krieg in den Mittelstand aufgestiegen waren. Lutz’ Eltern waren unten geblieben: Seine Mutter stand an der Heißmangel, sein Vater saß als Verkäufer mit Genehmigung seines Jagdkollegen in einem Kaufhaus in der Jagdabteilung.

Wie geht es Ihnen heute als Schriftstellerin?

Ich habe schon früher literarisch geschrieben, auch veröffentlicht, kleine Texte, Schnipsel, das war eine Art Selbstrettung. Und jetzt habe ich das Gefühl: Ich möchte auf meine Art ausdrücken, was mir wichtig ist. Mein Roman „Blue“ ist autobiografisch, aber ich will darin nicht nur diese eine Liebesgeschichte erzählen, sondern meine kumulierten Erfahrungen mit der Liebe zum Ausdruck bringen. Franz Jung, dieser Schriftsteller, der unseren Verlag so tief geprägt hat, hat mal gesagt: Die Aufgabe von Literatur ist es, die Seelen zu kneten – was mir sehr gefällt. Und das habe ich in dieser Liebesgeschichte versucht, und in der Erzählung über den Verlag mache ich das in einem größeren Format.

Sie wirken sehr zufrieden.

Ich muss nicht auf den Markt, ich muss nicht ins „Spektakel“. Ich mache jetzt im Herbst ein paar Lesungen und freue mich natürlich, wenn ein paar Leute kommen. Und dann mache ich wieder was anderes.

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