Gefährlich geschönt im Auswärtigen Amt

Der neue Bericht zur Sicherheitslage in Afghanistan war bei seinem Erscheinen schon veraltet. Die Analyse verharmlost den ungebremsten Vormarsch der Taliban. Die taz konnte das unter Verschluss gehaltene Dokument einsehen

Ein afghanischer Soldat in Kandahar. Der indische Fotojournalist Danish Siddiqui machte dieses Bild fünf Tage, bevor er am 16. Juli bei Kampf­handlungen zwischen Taliban und afghanischer Armee getötet wurde Foto: Danish Siddiqui/reuters

Von Thomas Ruttig

Das hat die Bundesregierung schlau angestellt. Nachdem die afghanische Regierung am 8. Juli wegen der größten Taliban-Offensive seit 2001 alle Abschiebungen in ihr Land abgesagt hatte, hieß es aus Berlin: Man werde die „Bitte“ Afghanistans prüfen. Eine Änderung der Abschiebepraxis in das Land sei aber nicht geplant. Auf Grundlage eines neuen Afghanistan-Lageberichts des Auswärtigen Amtes (AA) solle entschieden werden, „wie es weitergeht“, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am 12. Juli. Recherchen der taz zeigen nun, dass der Lagebericht ein geschöntes Bild der Sicherheitslage in dem Land zeichnet und damit Abschiebungen nach Afghanistan erleichtern könnte.

Am Montag teilte das AA mit, der Bericht sei „an die Empfänger“ – das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf), die in Asylsachen entscheidenden Verwaltungsgerichte und die Innenbehörden der Länder – versandt worden. „Berichte über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage“, wie diese sperrig-offiziell heißen, seien Verschlusssachen, deshalb könne er über Details „keine Auskunft geben“, sagte ein Sprecher des AA.

Die taz hat den Bericht vorliegen, und eine Analyse der 26 Seiten zeigt, dass das AA an mehreren Stellen veraltete oder falsche Behauptungen aufstellt, die die aktuelle Sicherheitslage in Afghanistan beschönigen. Andere Auszüge widersprechen einer viel zitierten Studie von Friederike Stahlmann von Mai 2021, die die Diakonie Deutschland über Afghanistan in Auftrag gegeben hatte.

Auf den ersten Blick fällt auf, dass der AA-Bericht in Teilen bereits veraltet ist. Angegeben ist „Stand Mai“, ob Anfang oder Ende des Monats, bleibt offen. Das ist im Fall Afghanistans aber relevant, denn Anfang Mai begann dort die große Taliban-Offensive. Die Aufständischen nahmen seither etwa 200 von 388 Distrikten des Landes ein, rund 15 konnten die Regierungstruppen wieder zurückerobern. Anfang Mai hingegen kontrollierten die Taliban nur 32 Distrikte.

Bodenkämpfe sind die größte Gefahr für Zi­vi­lis­t:in­nen in Afghanistan. Dass dies „wie schon im Vorjahr“ immer noch so sei, bestätigen die Vereinten Nationen in ihrem Zivilopferbericht für das erste Quartal 2021. Dies unterschlägt das AA in seinem Bericht.

Die Behörde schreibt auf Seite 4 ihres Dokuments, es gebe „starke regionale Unterschiede“ in der Sicherheitslage und hinreichend sichere Gebiete für Abschiebungen. Doch tatsächlich blieben nur wenige, meist periphere Regionen von der Taliban-Offensive und den damit verbundenen Kämpfen verschont.

Die Taliban starteten selbst in drei von vier bislang verschonten Provinzen – Daikundi, Chost und Kunar – Angriffe. Auch in einigen Gebieten der Provinz um die Hauptstadt Kabul tauchten ihre Spezialtruppen, „rote Einheiten“ genannt, auf. Hier wurde die Bevölkerung aufgerufen, die Häuser nicht zu verlassen, und das sind Anzeichen für bevorstehende Kämpfe, wie die Ereignisse in anderen Provinzen zeigten.

Abschiebungen Im Oktober 2016 hat die Bundesregierung ein Rücküber­nahmeabkommen mit Afghanistan geschlossen. Kurz darauf brachte der erste Abschiebeflug abgelehnte Asylbewerber nach Kabul. Insgesamt hat Deutschland seither 1.104 Afghanen in 40 Sammelflügen abgeschoben – der letzte erfolgte vor rund zwei Wochen von Hannover. Mit Ausnahme Bremens beteiligen sich alle Bundesländer an den Abschiebungen. Die meisten Länder schieben Straftäter, Gefährder oder Identitätsverweigerer ab. In Bayern und Sachsen gibt es keine Einschränkungen.

Asyl Laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) liegt die aktuelle Schutzquote bei Asylbewerber:innen aus Afghanistan bei 37,4 Prozent. Im vergangenen Jahr wurden jedoch Tausende Bamf-Entscheidungen vor Gericht kassiert. Pro Asyl wirft dem Bamf vor, die Schutzquoten aus politischen Gründen gering zu halten. Nach Angaben des Ausländerzentralregisters leben aktuell 281.214 afghanische Staatsangehörige in Deutschland. Viele erhalten zwar einen Schutz- oder einen Duldungsstatus. Mehr als 30.000 Afghanen werden als „ausreisepflichtig“ aufgelistet. (rpa)

„Abgesehen von temporären Straßensperren und akuten Kampfhandlungen bestehen keine dauerhaften Bewegungsbeschränkungen“ für Verfolgte und Bedrohte, schreibt das AA auf Seite 16 des Berichts. Statt in Deutschland Asyl zu suchen, sei es ihnen „grundsätzlich möglich“, „in die größeren Städte auszuweichen“. Das ist stark über­trie­ben:­ Tat­säch­lich kontrollieren die Taliban seit dem Abzug Hunderter Regierungsposten die meisten Überlandstraßen und damit auch die Bewegungsfreiheit der Af­gha­n:in­nen fast nach Belieben. Sie suchen vor allem nach Mitarbeitern der bedrängten, nach Meinung einiger Analysten sogar kurz vor dem Sturz stehenden Regierung. Auch Angehörige der gebildeten Schichten versuchen deshalb derzeit, aus dem Land zu fliehen. Sie könnten demnächst eine wichtige neue Gruppe von Asylantragstellern werden. Zwar verkündeten die Taliban für sie eine Amnestie, aber nur wenn sie ihre Regierungsjobs freiwillig verließen. Immerhin merkt das AA an, die Absorptionsfähigkeit der afghanischen Großstädte sei „durch die hohe Zahl der Binnenvertriebenen und Rückkehrer bereits stark beansprucht“.

Das AA hebt hervor, dass im Jahr 2020 weniger zivile Kriegsopfer zu beklagen waren als im Jahr davor. Es erwähnt aber nicht, dass laut erstem UNO-Quartalsbericht 2021 „das außerordentliche Niveau an Schaden“, den der Krieg Zi­vi­lis­t:in­nen insgesamt zufüge, „unverändert“ blieb und in diesem Quartal sogar noch „signifikant höher“ als im Vergleichszeitraum war. Dem AA dürfte zudem bekannt sein, dass die Zahl der bewaffneten Auseinandersetzungen seit Mitte 2020 fast dauerhaft und oft um ein Vielfaches höher war als seit 2014, dem Ende der Nato-Kampfmission Isaf.

Im Bericht hingegen steht auf Seite 6, die Taliban „versuchen“, ihren Einfluss „zu konsolidieren und auszuweiten“, und dass der westliche Truppenabzug ihre Bewegungsfreiheit vergrößert. Das ist nur ein schwacher Abglanz der Realität, denn die Taliban stehen vor den Toren der Städte mit den Flughäfen, auf denen auch die Abschiebeflieger landen.

Zur Gesamtlage verwenden die AA-Autor:innen beschönigende Textbausteine aus Vorgängerberichten. Dass Afghanistan sich „weiterhin in einer schwierigen Aufbauphase mit einer volatilen Sicherheitslage“ befinde (Seite 4) ist eine maßlose Untertreibung: Afghanistan ist weltweit Kriegsland Nummer 1. Auf Seite 15 steht, dass es nach dem ursprünglich ausgehandelten Abzugsdatum für die westlichen Truppen, dem 30. April 2021, zu einem „weiteren Gewaltanstieg und erhöhtem Druck der Taliban“ gekommen sei. Hinter Sätzen wie diesem bleibt die akute Negativdynamik verborgen.

Dass nach dem US-Abkommen mit den Taliban vom Februar 2020 „keine“ ihnen „zuzuschreibenden Angriffe von besonderer strategischer und medialer Bedeutung“ zu verzeichnen gewesen seien (Seite 5), ist eine Information aus dem Vorjahr. Die Voraussage, es sei „möglich, dass sich der Trend der Ausweitung des Einflussgebiets der Taliban in den nächsten Monaten beschleunigen wird“, ist hingegen eine längst eingetretene Tatsache.

Im Juni hatte der Europäische Gerichtshofs (EuGH) in Luxemburg die deutsche Rechtsprechung, Flüchtlingen nur subsidiären Schutz zu gewähren, wenn die Zahl der zivilen Opfer pro Kopf der Bevölkerung in ihrer engeren Heimatregion eine bestimmte Quote übersteigt, für nicht vereinbar mit europäischem Asylrecht erklärt. Pro Asyl hatte errechnet, dass mit dieser sogenannten Gefahrendichte selbst Dresd­ne­r:in­nen während der alliierten Luftangriffe 1945 keinen Schutz erhalten hätten. Laut EuGH darf der Schutz von Kriegsflüchtlingen also nicht an der Kampfintensität festgemacht werden.

Der Bericht widerspricht der ausführlichsten Studie zu diesem Thema, die die Diakonie in Auftrag gegeben hatte und der zufolge aus Deutschland abgeschobene Afghanen dort gezielt bedroht und angegriffen wurden. Dem AA seien „keine Fälle“ davon bekannt, schreibt die Behörde auf Seite 24. Offen bleibt, ob es überhaupt nachgeforscht hat – in der Vergangenheit war erklärt worden, das sei nicht nötig, denn ab Übernahme am Kabuler Flughafen seien die afghanischen Behörden für diese Menschen verantwortlich.

Den deutschen Abschiebebehörden wird gleichzeitig die Existenz eines Systems an Aufbauhilfen und Therapien für Abgeschobene vorgegaukelt, das tatsächlich höchst unzureichend ist. Der Bericht blendet auch die Realität eines nicht nur wegen der anhaltenden Coronakrise in die Knie gegangenen Gesundheitssystems aus. In der Städten mag es „ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken“ geben, aber die meisten sind privat und für Abgeschobene unerschwinglich.

Insgesamt erfüllt der Bericht nicht den von Regierungssprecher Seibert angegebenen Zweck, Entscheidungen zur Abschiebung „auf der Basis einer immer wieder aktualisierten, sehr genauen Beobachtung der Lage“ treffen zu können. Er beschreibt die Lage vor fast zwei Monaten und manchmal die des Vorjahrs, und das ist nicht so aktuell wie nötig und möglich. Er ermöglicht es Asylrichtern aber herauszulesen, dass die Lage in Afghanistan zwar schwierig, aber so schlimm auch wieder nicht sei – besonders jenen, die keine unabhängigen Quellen zu ihrer Urteilsfindung heranziehen.