Pionierin des Popjournalismus: Die mit den Lemmingen tanzte

Hippie-Mädchen mit vollem Notizblock: Ingeborg Schober schrieb über Pop mit Begeisterung und genau. Eine Anthologie erlaubt ihre Wiederentdeckung.

Porträt von Ingeborg Schober mit Sonnenbrille draußen.

Die Journalistin Ingeborg Schober ​ Foto: Gabriele Werth

Da passte der Portier einen Moment lang nicht auf. Eine Sekunde der Unachtsamkeit, und schon hatte Ingeborg Schober, die Frau, die der Münchner Hotelmitarbeiter für ein Groupie hielt, einen Blick auf die Telefonliste des Hauses erhascht. Wenig später klopfte sie an die Tür der US-Musiker Stephen Stills und Chris Hillman.

Anders, als der Portier annahm, war Ingeborg Schober kein Groupie, sondern Journalistin. 1972 sollte sie Stills und Hillman, die damals gerade die Band Manassas gegründet hatten, fürs Feuilleton der Süddeutschen Zeitung interviewen. Zum vereinbarten Termin aber steht sie vor verschlossenen Türen: Offensichtlich wurde die Pressekonferenz abgesagt, ohne ihr Bescheid zu geben. Schober irrt durch die Stadt, telefoniert ihre Kontakte ab, wird von einem windigen Promoter erst aufs Oktoberfest ein- und dann wieder ausgeladen, um Manassas dort zu sprechen.

Sie sucht die beiden im Ballsaal eines Luxushotels, findet aber nur „amerikanische Ladys, rosa gepudert mit regenbogenfarbenen Lidern, Abendkleidern wie Eiscreme“. Gerade denkt Schober schon über Bestechung nach („Ob vielleicht 5,- DM helfen?“), als besagter Portier des Hotels, in dem Stills und Hillman abgestiegen sind, kurz die Telefonliste aus den Augen lässt. Schober kriegt ihr Interview. Und die Welt einen unterhaltsamen Text über die (Un-)Sitten im Rockbiz.

Die Odyssee, die Ingeborg Schober in ihrer Reportage „Ein langer Weg von Buffalo nach Manassas“ beschreibt, erzählt von anderen Zeiten im Musikjournalismus. Während Pressetage heute meist streng durchchoreografierte Interview-Marathons in Labelbüros sind, konnte ein Schreibauftrag in den frühen 1970ern ein echtes Abenteuer sein.

Unterwegs in einer Männerdomäne

In diesen Tagen leistete Ingeborg Schober – geboren 1947 im bayerischen Sonthofen, verstorben schon 2010 – Pionierarbeit in mehrfacher Hinsicht. Nicht nur, dass sie als Frau eine prägende Figur des Musikjournalismus wurde, der damals, mehr noch als heute, eine Männerdomäne war; Schober erkannte auch schon, was neu, gut und eigenständig an Bands wie Can und Tangerine Dream war, als die Genrebezeichnung „Krautrock“ noch einen eher despektierlichen Beigeschmack hatte. Über die Münchner Krautrock-Kommune Amon Düül schrieb sie das Buch „Tanz der Lemminge“ (Rowohlt, 1979), benannt nach einem Album der Band.

Ingeborg Schober: „Die Zukunft war gestern“, Hrsg. von Gabriele Werth, Verlag Andreas Reiffer, Braunschweig 2021, Hardcover, 400 Seiten, 24 Euro

Die Autorin Gabriele Werth hat Schober, der Patin des westdeutschen Popjournalismus, nun eine Anthologie gewidmet. „Die Zukunft war gestern“ versammelt einige von Schobers wichtigsten Texten und Erinnerungen von Wegbegleiter:innen.

Schon Ende der 1960er schrieb Schober ihre ersten Artikel für das Popmagazin HIT, auf einer Schreibmaschine, die sie sich vom Preisgeld eines Drehbuchwettbewerbs gekauft hatte. In München, in den späten 1960ern die Kinohauptstadt der BRD, suchte Schober erst Anschluss an die Filmszene, dann wurde sie freie Mitarbeiterin beim Bayerischen Rundfunk und bald Moderatorin der heute legendären Radiosendung „Club 16“, aus der später „Zündfunk“ hervorging.

Die Anthologie beginnt mit einem Auszug aus „Tanz der Lemminge“, der von Schobers Reise nach London im Jahr 1967 erzählt. Drüben in England wie auch in den USA gab es dank Magazinen wie dem britischen Melody Maker und New Musical Express schon eine vitale Musikpresse; in Deutschland hingegen musste das junge Genre erst etabliert, der Rock-Kanon (den viele von Schobers Nach­fol­ge­r:in­nen leidenschaftlich zerpflückten) erst geschrieben werden. Schobers Texte für Magazine wie Sounds oder den 1969 gegründeten Musikexpress sind Dokumente aus den sehr frühen Tagen des deutschen Popjournalismus.

Verdammt gute Antworten

Manche Texte lesen sich deshalb ein wenig aus der Zeit gefallen. Oft stellte Schober ihren In­ter­view­part­ne­r:in­nen Fragen, die heute als Rockpresse-Klischees gelten (Woher kommt euer Bandname? Wie wichtig sind für dich Texte?), bekam aber immer wieder verdammt gute Antworten.

Dem extravaganten US-Duo Sparks entlockte sie Geschichten über ihre Anfänge als Auftragssänger auf Mormonenpartys. Sie begegnet dem britischen Journalistenschreck Kevin Ayers mit Empathie und Ernsthaftigkeit, weist die allmächtigen Queen in die Schranken und schreibt über Kate Bush im Märchenduktus („Käthchen, das Buschwindröschen“). Das riecht natürlich nach Verniedlichung und könnte übel missglücken, würde sich Schober Kate Bushs Musik nicht exakt so analytisch wie die von männlichen Kollegen vornehmen.

Mit klarem Kopf und vollem Notizblock blieb sie die Hippie-Reporterin

Trotz ihres subjektiven Stils lassen sich Schobers Texte nur bedingt als deutsche Version des erzählerischen „New Journalism“ oder gar des Gonzo-Journalismus betrachten, der den US-Musikjournalismus der 1970er prägte. Während Autoren wie Lester Bangs damals im US-Rolling Stone neben Fachwissen und Leidenschaft auch immer ihren Suchtmittelkonsum ausstellten, blieb Schober die Hippie-Reporterin mit klarem Kopf und vollem Notizblock.

Penibel listete sie in ihren Texten Fakten auf, erklärt Szene-Zusammenhänge und Hintergründe. In Zeiten, in denen Popmusik in Deutschland vielen eher als Ärgernis denn als Kulturgut galt, verschaffte sie Rockfans wie auch -Skeptiker:innen durch ihre ernsthafte Chronistinnenarbeit Zugang zu Insiderwissen.

Eines hatte Schober mit den Gonzo-Mackern gemein: Sie hatte Street Credibility, war fester Teil der Münchner Szene. In einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung beschreibt Dirk Wagner, wie Schober Rockstars nach Konzerten in die Disco „Sugar Shack“ zum Interview führte. Dort nämlich durfte sie, als Gegenleistung für den hohen Besuch, das Büro als Schreibstube nutzen. Wenige Meter vom Club entfernt übergab sie dann dem Nachtportier der Süddeutschen Zeitung ihre Konzertkritiken.

Schober war ein Fan – aber ein unbestechlicher. Als sie nach der eingangs beschriebenen Suche Stephen Stills und Chris Hillman endlich sprechen kann, gibt sie den beiden freundlich zu verstehen, dass sie ihr letztes Konzert ziemlich vergurkt haben.

Demut vor Musik und Publikum

Während viele Pop­kri­ti­ke­r:in­nen bewusst auf Respektlosigkeit setzen, sprach aus Schobers Texten eine große Demut gegenüber Musik und Publikum. Die Autorin selbst ist in allen Texten so präsent wie diskret in ihrem Auftreten. Nie findet sie sich selbst interessanter als die Menschen, die ihr begegnen, nie degradiert sie Pop zum Soundtrack für Selbsterkundungen. Immer bleibt man dicht an ihrer Seite, vergisst aber manchmal, dass sie überhaupt da ist.

Zum Beispiel, wenn man ihr nach Düsseldorf folgt, um Kraftwerk zu besuchen, und am Flughafen plötzlich im Nebel steht; wenn Gedanken über die Stadt die Sicht auf den Maschinensound ihrer Szenebands formen (und umgekehrt); wenn land­scapes Aufschluss über soundscapes geben. „Ich blicke aus meinem Hotelzimmer in ein dichtes, milchiges Nichts, aber ich registriere Töne, Klänge“, schreibt Schober. „Sie scheinen in Düsseldorf tatsächlich in der Luft zu liegen – ‚Wellen und Schwingungen‘ würden Kraftwerk sagen. Es muss was dran sein, so elektrisiert habe ich mich schon lange nicht mehr gefühlt, nicht nur, weil ich beim Öffnen und Schließen der Zimmertür ständig eine gewischt bekomme.“

Dass Schober oft beschreibend und immer fair blieb, bedeutet aber nicht, dass ihre Texte keine analytische Kraft haben. In ihrem Essay „Maskulin/Feminin“, der 1980 in der Buchreihe „Rock Session“ erschien, schreibt sie über Pop und Gender, noch bevor der Gender-Begriff in Popdebatten überhaupt eingeführt war. Wenn sie die antimaskuline, antiheldische Ästhetik der Wave-Bewegung betrachtet und die Misogynie des Rolling-Stones-Songs „Under My Thumb“ kritisiert, kann man sich kaum vorstellen, dass dieser Text 40 Jahre alt ist.

Trotz dieser Verdienste, trotz ihrer Biografien über Janis Joplin und Jim Morrison erging es Schober wie vielen Frauen, die sich früh im Musikjournalismus behauptet haben – etwa Ellen Willis in den USA und Lilian Roxon in England: Allen, die mit ihren Artikeln und Radiosendungen aufgewachsen sind, ist sie unvergessen, der breiten Masse hingegen kaum bekannt. Ihre (Wieder-)Entdeckung wäre überfällig. Schließlich hätten Portiers Journalistinnen, die in Hotel-Lobbys auf Musiker warten, ohne Ingeborg Schober vielleicht noch länger für Groupies gehalten.

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