Abriss eines Architekturjuwels: Brutal gut in Moabit

Ein Bau aus den 1970'ern sorgt für Aufruhr: Er soll Wohnungen und Gewerbe weichen. Nun kämpfen An­woh­ne­r:in­nen für seinen Erhalt.

Foto: Christian Thiel

BERLIN taz | Dass es sich hier um keine gewöhnlichen Gebäude handelt, sieht man dem Ensemble in der Rathenower Straße in Moabit direkt an: Der mit rotem Backsteinen verklinkerte Bau erinnert ein wenig an eine Mars-Basis aus einem alten Science-Fiction-Film. In die Fassade sind halbrunde Säulen eingelassen, mit Fenstern, die an Bullaugen erinnern. Aus der Rückseite des asymmetrischen Gebäudekomplexes ragen diagonale, etwas brachial wirkende Betonstreben in den dahinter liegenden Park. Vor dem Gebäude ist ein begrünter Wall aufgeschüttet, von dem man über Brücken direkt auf eine Terasse in der erste Etage gelangt. Abgeschlossen wird das Ensemble von einem achtetagigen Hochhaus, das an einen Kirchturm erinnert.

Der Komplex ist ein Vertreter des Brutalismus, eines in den 1970er Jahren populären Baustils, der in letzter Zeit unter Ar­chi­tek­tur­lieb­ha­be­r:in­nen wieder verstärkt Wertschätzung gefunden hat. Ein bemerkenswertes Stück Architektur also – von der ein großer Teil bald abgerissen werden soll. Der Bezirk und der Eigentümer, die landeseigene Wohnungsbaugesellschaft WBM, wollen hier unter anderem Platz für dringend benötigten Wohnraum schaffen. Das sorgt nicht nur für Konflikte mit Architekturliebhaber:innen: Auch etwa in der Jugendarbeit tätige Vereine, die das Gebäude derzeit noch nutzen, klagen, dass sie sich die hohen Mieten eines Neubaus nicht würden leisten können.

Und: Der Fall wirft Fragen nach dem Umgang der Stadt mit ihren Liegenschaften auf. Aus ökologischer Sicht ist angesichts der Klimakrise jeder vermeidbare Abriss einer zu viel. Wie viel Nachverdichtung ist zumutbar? Was macht die architektonische Identität der Stadt aus? Wie viel Neubau kann sie sich noch leisten, wenn sie ihre Klimaziele einhalten will?

Die Anwohner:innen-Initiative „Wem gehört Moabit?“ will den Abriss verhindern. „Die Fliesen sind sogar noch original!“ Die Begeisterung ist Architektin Theresa Keilhacker deutlich anzumerken, als sie durch den größtenteils verwaisten Flachbau in der Rathenower Straße 16 führt. Die Einrichtung der knallgelb gefliesten Küche wurde zwar schon herausgerissen, aber ansonsten sei das Gebäude in einen nutzbaren Zustand. „Die Räume sind perfekt für die Jugendarbeit geeignet“, stellt sich Keilhacker die zukünftige Nutzung vor.

Als Wohnheim gedacht

Die Gebäude sind Teil eines in den 70er Jahren errichteten Kinder- und Jugendzentrums. „Die Idee war, einen Ort zu schaffen, an dem Heranwachsende durch ihre gesamte Kindheit bis zur Jugend begleitetet werden können“, erklärt Keilhacker den Grundgedanken des Ensembles, zu dem auch das anliegende Freizeitzentrum mit Jugendklub „Zille“, eine Kita, eine Grundschule und eine Turnhalle gehören, die ursprünglich im selben Stil errichtet worden sind. Der Flachbau und das Hochhaus waren als Wohnheim für Kinder und Jugendliche gedacht.

„Das Ensemble ist ein wichtiges Zeugnis seiner Zeit“, stellt Keilhacker klar, die Architektur vereine Form und Funktion in eleganter Art und sei damit Ausdruck eines „sozialpädagogischen Reformwillens“, der heute wieder „hohe Aktualität besitzt“.

Die Pläne Berlins, den Flachbau samt Erdwall abzureißen und ihn durch einen achtgeschossigen Bau in U-Form zu ersetzen, sorgen daher für Entsetzen in der Fachwelt. Die ursprüngliche Idee der Architekten würde dadurch komplett zerstört, es entstünde „ein nicht zusammenpassendes Konglomerat inhaltsleerer Gebäudefragmente“, heißt es in einem im vergangenen Jahr veröffentlichten offenen Brief Keilhackers und zweier weiterer Architekt:innen, der unter anderem an Se­nats­ver­tre­te­r:in­nen adressiert war.

Baukulturelles Erbe Berlins

Doch das Landesdenkmalamt sieht das anders und hat dem Ensemble nach einer Prüfung keinen Denkmalwert bescheinigt. „Der ursprüngliche Entwurf wurde immer weiter verändert und in seinen Qualitäten gemindert“, begründet Sprecherin Christine Wolf die Entscheidung des Amtes. Über die Jahre seien zahlreiche Veränderungen vorgenommen worden, so seien die markante Klinkerfassade und der Sichtbeton bei der Kita und dem Jugendklub durch die angebrachte Wärmedämmung nach der Sanierung nicht mehr sichtbar. Dadurch sei ein wesentliches verbindendes Element verloren gegangen, „Auf Grundlage des derzeitigen Kenntnisstandes liegen dem Landesdenkmalamt keine Hinweise vor, dass die Kriterien für ein Baudenkmal erfüllt werden“, resümiert Wolf.

Allerdings ist die Sorge um das baukulturelle Erbe Berlins nicht die einzige, die die Ab­riss­geg­ne­r:in­nen bewegt. Nach der Aufgabe des Kinder- und Jugendheims bot die Anlage Platz für zahlreiche Träger, die vor allem in der Sozial- und Jugendarbeit tätig sind, darunter das S.O.S. Kinderdorf, der Drogennotdienst, die Obdachlosenhilfe Kiezküche und den Moscheeverein Haus der Weisheit. Ein Grund dafür ist die im 25 Jahre alten Bebauungsplan festgelegte Nutzung, die auschließliche „Gemeinbedarf“ vorsieht.

Doch Keilhacker befürchtet, die für den Neubau notwendige Änderung des Bebauungsplans würde eine langfristige soziale Nutzung des Areals verwässern. Das im neuen Bebauungsplan vorgesehene „urbane Gebiet“ ermöglicht auch Gewerbe und Wohnungen. „Die jetzt dem Gemeinbedarf gewidmeten Nutzungen wären nicht mehr garantiert“, so die Architektin. Durch die Änderung des Bebauungsplans sei es aber möglich, das Gelände endlich gewinnorientiert zu entwickeln: „Die Stadt verhält sich wie ein privater Investor“, kritisiert Keilhacker.

Vereine verließen den Bau

Noch 2010 sollte das vormals im Besitz des Berliner Immobilienverwalters BIM befindliche Ensemble komplett abgerissen und an private Investoren verkauft werden. Doch dann steuerte der Senat in letzter Sekunde um, und beschloss, auf dem Gelände eine gemeinwohlorientiertere Nutzung in Landeshand zu realisieren. Insgesamt 140 Wohnungen sollen entstehen, davon ein Drittel für bedürftige Gruppen wie unbegleitete Jugendliche sowie ein Großteil der Gewerbefläche für soziale Nutzungen. „Ohne Abriss des Erdwalls und des zweigeschossigen Anbaus wäre die Entwicklung als Wohnstandort in dieser Form nicht möglich“, begründet Mittes Baustadtrat Ephraim Gothe (SPD) die Pläne gegenüber der taz.

Doch seitdem die Abrisspläne konkreter wurden, verließen immer mehr Vereine den Flachbau, sofern sie alternative Räumlichkeiten gefunden hatten. „Wir hätten in eine Turnhalle ziehen können, die hätten wir uns aber mit einem anderen Verein teilen müssen“, berichtet Dieter Burmeister, der ehrenamtlich beim Haus der Weisheit aktiv ist. Der Moscheeverein hat als letzter Mieter noch keine Ausweichmöglichkeit gefunden, dabei wurde der Mietvertrag zu Ende Mai gekündigt. In einem Eilantrag wurde von der Bezirksverordnetenversammlung beschlossen, Ersatzräumlichkeiten für den Verein zu finden. Bis dahin sei das Haus der Weisheit geduldet. „Wir sind gerade Besetzer“, sagt Burmeister etwas verschmitzt.

Zwar wurde den Mie­te­r:in­nen angeboten, Räume im Neubau zu beziehen, deren Mieten dann mit 10 Euro pro Quadratmeter aber mindestens doppelt so hoch wie bisher wären. „Ich bin nicht sicher, ob wir das schaffen können“, schätzt Burmeister die finanzielle Mehrbelastung ein. Baustadtrat Gothe gibt zu bedenken, dass die niedrigen Mieten das Ergebnis der unterlassenen Instandhaltung und die Mietverträge von vornherein nur als Zwischennutzung angelegt gewesen seien. „Das ist allen Mie­te­r:in­nen bekannt gewesen.“

Aus ökologischer Sicht problematisch

Unverständlich für die Abriss­gegner:innen bleibt, warum das Land das Gebäude­ensemble fast 10 Jahre lang zu großen Teilen leer stehen und verfallen lassen hat. „Es gibt sowohl in der Umgebung als auch in Berlin einen enormen Bedarf für soziale Einrichtungen“, erklärt Keilhacker, „gerade wenn sie wie das Haus der Weisheit auch die migrantisch geprägte Bevölkerung einbeziehen.“ Auch das räumungsbedrohte Jugendzentrum Potse in Schöneberg, das seit über zwei Jahren nach geeigneten Ersatzräumen sucht, hatte im Januar Interesse angemeldet. „Die waren total begeistert“, erinnert sich Keilhacker.

Aus ökologischer Sicht sei der Abriss äußerst problematisch, kritisiert Keilhacker. Schließlich handele es sich um weitgehend intakte Gebäudesubstanz, wenn auch mit einigem Instandhaltungsrückstau. Abriss und Neubau würden unweigerlich weiteren Müll produzieren und CO2 ausstoßen. „Wir müssen lernen, den Bestand mehr wertzuschätzen“, fordert Keilhacker.

„Es handelt sich um einen Kompromiss“, wiegelt Gothe hingegen ab. Mehr Wohnraum, gerade für benachteiligte Gruppen, werde dringend benötigt. 30 Prozent der 140 geplanten Wohnungen seien dafür vorgesehen, sagt Gothe. Der Erdwall und der dreigeschossige Flachbau seien nicht mehr zeitgemäß, und schließlich sei es aus ökologischer Sicht „besser, eine höhere Bebauungsdichte zu ermöglichen, als weitere Grünflächen zu bebauen“.

Doch Keilhacker kritisiert, der Bezirk und die jetzige Eigentümerin, die landeseigene Wohnungsbaugesellschaft WBM, würden unterschiedliche Bedarfsgruppen gegeneinander ausspielen und unnötig Ressourcen vernichten. „Stattdessen sollte lieber der Leerstand in der Umgebung konsequent beendet werden und endlich das Jugendzentrum behutsam und energieeffizient saniert werden.“

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