Nach Präsidentenmord in Haiti: Dem Abgrund immer näher

Die Hintergründe der Ermordung von Jovenel Moïse sind weiter unklar. Doch die Ereignisse zeigen, wie Privatarmeen das Land bestimmen.

Straßenszene aus Port-au-Prince - Menschen auf einem Markt , im Hintergrund verladen zwei Männer eine Matzratze auf das Dach eines Minibusses

Alltag in Port-au-Prince, vier Tage nach dem Mord am Präsidenten Jovenel Moïse Foto: Matias Delacroix/ap

BERLIN taz | Wenn Bilder zu Ikonen werden, könnte dieses vielleicht dazu gehören: Ein große Gruppe Hai­tia­ne­r:in­nen in Flip-Flops und sommerlicher Kleidung bringt ausländische Söldner zur Polizeistation. Sie vermuten, sie könnten zur Truppe gehört haben, die Jovenel Moïse, den umstrittenen Präsidenten, getötet haben.

Angesichts der Bilder von Gewalt, die aus Haiti normalerweise kommen, war dieses ausnehmend friedlich. Die Menschen sprachen mit denen, die sie zur Polizei brachten. Sie waren nicht aufgebracht, sondern wollten nur, dass die Institution klärt, was die Hintergründe dieser Männer sind. Sie riefen nicht die Polizei zu sich, weil sie wahrscheinlich befürchteten, dass das Schicksal dieser Männer und die Frage ihrer Beteiligung dann ungeklärt bleiben könnte. Straflosigkeit ist nicht nur in Hai­ti Ausdruck für die Überlegenheit der Parastaatlichkeit. So gab es für einen Moment immerhin eine Öffentlichkeit, die wenigstens um die Transparenz des Verfahrens rang.

Was ist über die Hintergründe der Ermordung von Präsident Jovenel Moïse in der Nacht vom 7. Juli bislang bekannt? Es zeichnet sich immer deutlicher ab, dass ein hochgerüstetes Kommando internationaler Söldner das Attentat gut geplant und schwer bewaffnet durchgeführt hat.

Die Rede ist von kolumbia­ni­schen und US-amerikanischen Staatsbürgern, Letztere womöglich mit haitianischen Wurzeln. Jetzt wurde auch noch der haitianische Arzt Christian Emanuel Sanon festgenommen, der eigentlich im US-Bundesstaat Florida lebt. Dieser soll erst vor Kurzem nach Haiti eingereist sein. Er soll in telefonischem Kontakt mit den offenbar gedungenen Mördern gewesen sein.

Privatarmeen mit großer Macht

Dass ausländische Söldner in das Attentat verwickelt sein sollen, erscheint glaubwürdig. In der Nachfolge des Erdbebens, das vor gut elf Jahren Hai­ti verwüstete und über 100.000 Menschen tötete, hat sich – auch mit US-Regierungsgeldern – ein wachsender Sektor privater Sicherheitsdienste entwickelt, der über die entsprechenden Mittel verfügt. Wenn das Attentat aus diesem Bereich kam, mussten Söldner nicht erst eingeflogen werden. Sie waren schon da.

Ein aufschlussreiches Beispiel für die wachsende Bedeutung privater Sicherheitsdienste, die man eigentlich als Privatarmeen bezeichnen muss, ist der Chef der Leibgarde des getöteten Präsidenten. Gegen Dimitri He­rard, Chef der Sicherheitseinheit des Nationalpalastes (USGPN), ermittelten US-Behörden wegen Waffenschmuggels in den USA und Haiti. Neben seinem Polizeijob besitzt Herard noch eine Sicherheitsfirma und gehörte nach dem Erdbeben von 2010 zu einer kleinen Gruppe haitianischer Polizisten, die unter der Ägide von US-Fachleuten in Ecuador ausgebildet wurden: zur Aufstandsbekämpfung.

Das bedeutet nicht, dass He­rard in das Attentat verwickelt ist, zeigt aber, wie sich in Haiti seit dem Erdbeben die „Sicherheitslandschaft“ grundlegend verändert hat. Und darin spielen Privatarmeen eine so große Rolle, dass sie auch einen Präsidenten töten können.

Solche Strukturen zu fördern, hielt man auf internationaler Ebene zunächst für eine Form von Sicherheit. Das Augenmerk der internationalen Gemeinschaft, der UNO und ihrer Hai­ti-Mission Minustah, richtete sich nur auf die Gangs in den Elendsvierteln. Die Armen, die in Haiti 80 Prozent der Bevölkerung ausmachen, hält man aus der Sicht eines Herrschafts- und Kontrolldenkens naturgemäß für gefährlich. Diese Logik bescherte Haiti einen der längsten UN-Militäreinsätze weltweit.

Die Blauhelmtruppe Minus­tah, die unter der Kontrolle lateinamerikanischen Militärs stand, verschlang in den 13 Jahren ihrer Existenz zwischen 2004 und 2017 täglich eine Million Dollar. Der ehemalige Direktor der OAS (Organisation Amerikanischer Staaten) in Haiti, der Brasilianer Ricardo Seitenfus, kommentierte dazu kürzlich in der haitianischen Tageszeitung Le Nouvelliste, heute stünde Haiti trotzdem vor dem Abgrund. Das schrieb er noch vor der Ermordung von Moïse.

Gangs als paramilitärische Gruppen

Neben den Privatarmeen bleiben die Gangs aus den Elendsvierteln ein wichtiger Faktor, aber in anderer Form als früher. Auch sie sind heute so bewaffnet, dass man sie als paramilitärische Gruppen bezeichnen kann. Sie haben unter Moïse einen enormen Macht- und Waffenzuwachs erfahren. Sie sollten die breite Mobilisierung von unten unterbinden, die es gerade unter jungen gebildeten Leuten seit 2017 gab.

Diese Petrocaribe-Bewegung, die sich am Korruptionsskandal um den Verbleib der venezolanischen Erdbebenhilfsgelder entzündete, verlangte die Absetzung von Moïse, weil er in diesen Korruptionsskandal verwickelt war. Sie forderte vor allem eine Demokratisierung des Landes, freie Bildung, eine Gesundheitsversorgung und ein Rechtswesen, das in der Lage ist, auch die Elite bei Fehlverhalten vor Gericht zu bringen. Die Covid-19-Pandemie und die Gang-Massaker wie gezielte Tötungen von Ak­ti­vis­t:in­nen haben das vorgegebene Ziel erreicht, diese Bewegung zu brechen.

Wenn die Gangs nun als Täter des Mordes ausgeschlossen werden können, muss man von einem bewaffneten Machtkampf innerhalb der haitianischen Elite ausgehen. Das zeigt sich schon in den Debatten, wer nun der Übergangspräsident sei. Der von Moïse Anfang vergangener Woche entlassene Premierminister Claude Joseph erhebt diesen Anspruch. Sein nominierter, noch nicht inaugurierter Nachfolger Ariel Henry ebenfalls. Joseph war bereits in die Absetzung des demokratisch zum Präsidenten gewählten Armenpriesters Jean-Baptiste Aristide 2004 verwickelt, die von Frankreich und den USA vorgenommen wurde und in den Minus­tah-Einsatz mündete.

Der US-amerikanische Anthropologe und Haiti-Kenner Mark Schuller sagte der taz nach der Ermordung von Moïse, das größte Problem Haitis zur Zeit liege in dem „Machtvakuum“, das der ermordete Präsident systematisch ausgebaut habe. Der Oberste Gerichtshof ist nicht funktionsfähig, seit Moïse seinen Mitgliedern einen Putsch gegen ihn unterstellte und einige zeitweise verhaften ließ. Zudem ist der Präsident des Obersten Gerichtshofs gerade an Covid-19 gestorben. Er wäre der verfassungsmäßige Kandidat für eine Übergangspräsidentschaft gewesen.

Haitis Elite ist transnational

Das laufende Gerichtsverfahren in Sachen Petrocaribe-Korruption ist ohne ein einziges Urteil eingestellt worden. Das Parlament ist aufgelöst, weil keine Wahlen organisiert wurden. Bereits seit anderthalb Jahren regierte Moïse per Dekret. Er fühlte sich unter Donald Trump, aber auch unter Joe Biden unterstützt bei seinem Versuch, den haitianischen Staat endgültig für einen Teil der Eliten zu kapern. Denn die Core-Group – ein Bündnis der internationalen Geber, zu dem unter anderem die UNO, die USA, die EU, Frankreich und auch Deutschland gehören – hat bis zum Schluss am Moïse festgehalten.

Haitis Elite, wie überhaupt die haitianische Existenzweise, ist längst transnational. Man kann über Haiti nicht reden, ohne die haitianischen Gemeinden in Florida, New York oder Montreal mit einzubeziehen. Und so spielt sich der Kampf um die Zukunft Haitis derzeit auch in den Meinungsspalten der großen US-Zeitungen ab. Während Andres Oppenheimer im Miami Herald eine erneute UN-Friedensmission in Haiti fordert, kommen nun zum ersten Mal auch haitianische Stimmen aus den zivilen Bewegungen zu Wort.

So forderte die Programmdirektorin des haitianischen Menschenrechtsnetzwerks RNDDH, Rosy Auguste Ducena, in der Washington Post, dass die USA ihre Politik gegenüber Haiti ändern und sich mit „der haitianischen Zivilgesellschaft verbinden“ müssten. Sie fordert eine Übergangsregierung für Haiti, nicht aus Mitgliedern der Elite, „sondern aus Richtern und Ver­tre­te­r:in­nen der Zivilgesellschaft“. Diese müsste „frei von ausländischen oder Parteiinteressen“ sein.

Eine solche Übergangsregierung habe die Aufgabe, das Vertrauen der Haitianer in die Demokratie zurückzugewinnen. „Solange die Vereinigten Staaten und andere Mächte jedoch auf Wahlen im September drängen, wird es für Haitianer sehr schwer werden, wirkliche Lösungen zu erarbeiten.“

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