Nach Morden von Würzburg: Erklärungswut nach der Tat

Systematische Analysen von Amoktaten sind rar und geschehen viel zu selten. Sie könnten jedoch auch häusliche Gewalt verhindern helfen.

Trauerkerzen und Blumen liegen vor einem Kaufhaus in der Innenstad Würzburgs - dahinter stehen Menschen

Blumen am Tatort in Würzburg Foto: Nicolas Armer/dpa

Untersuchungen über Amokgeschehen und die Motive der Täter gibt es in Deutschland seit 1913. Damals tötet der Hauptlehrer Ernst Wagner zunächst seine Familie mit einem Dolch und danach im Nachbardorf mit Schusswaffen 8 Personen, 12 verletzte er schwer. Wagner litt an Wahnvorstellungen, ähnlich wie Anders Breivik, der Täter von Oslo und Utøya, dessen Bombenanschlag und Schüssen fast 80 Menschen zum Opfer fielen. Breivik sah sich als „Vollstrecker einer großen Sache“ und wollte „sein Volk“, vermeintlich bedroht vom muslimischen Bevölkerungswachstum, „erlösen“.

Ein 24-jähriger Mann in Würzburg tötete am vergangenen Freitag Menschen, die ihm nichts getan hatten. Der Hergang der Bluttat macht es schwierig, trennscharf zu erkennen, ob es ein Anschlag oder eine Amoktat war. Das ist von einiger Wichtigkeit, weil der junge Mann als geduldeter Bürgerkriegsflüchtling nicht zur einheimischen Gesellschaft gehörte, dieser aber auf fürchterliche Weise die Schuld an seinem Elend aufbürdet. Dass er Flüchtling ist, gibt der Tat eine politische Bedeutung.

Welchem Wahn der Täter von Würzburg ausgesetzt war, werden vielleicht die psychiatrischen Gutachten zeigen. Ob damit ein islamistischer Dschihadwahn einherging, wissen wir noch nicht. Die Fremdheit des Würzburger Täters und seines schrecklichen Verhaltens wird durch die mögliche Verbindung zum Dschihad zu einer für uns nicht nachvollziehbaren „religiösen“ Gewaltbereitschaft. Die Tat erhält eine besonders befremdende, ja – im eigentlichen Sinn abstoßende – Dimension eines Verbrechens.

Systematische Analysen von Amoktaten sind Mangelware. Sie geschehen zu selten, beispielsweise gemessen an der Zahl der Tötungsdelikte, die Ehemänner oder Ex-Partner an Frauen begehen und die in unserem Land durchschnittlich jeden dritten Tag passieren. Bei denen gibt es – im Unterschied zu Würzburg und anderen Vorfällen – deutliche Vorgeschichten und Warnhinweise.

Amok wird nicht einheitlich definiert, aber ein gemeinsames Merkmal ist, dass unbekannte Opfer wahllos ermordet werden. In der Zeit vor den Taten werden im Nachhinein unmittelbare „Auslöser“ entdeckt. Meistens sind das persönliche Kränkungen oder subjektiv wahrgenommene Bedrohungslagen.

Keine Planung der Tat

In Würzburg gab es offenbar keine Planung der Tat. Sie erfolgte in einem hochgradig erregten Zustand. Liegen bei Tätern Wahnvorstellungen zugrunde, so müssen diese keine Referenz in der Wirklichkeit haben – und können, weil sie realitätsfern sind, von außen auch nicht nachvollzogen werden. Häufiges aggressives Verhalten wie Angriffe und Drohungen gegen andere Personen können ernste erste Signale für Amoktaten sein. Im Würzburger Fall gab es solche Hinweise. Sie wurden aber in dem Obdachlosenheim, in dem der Täter lebte, nicht ausreichend erkannt.

Hätten Sicherheitskräfte die Tat verhindern können? Etwa 5 Prozent der Einsätze von Spezialeinsatzkräften der Polizei erfolgen wegen psychisch erkrankter, gewalttätiger oder bedrohlich agierender Personen. Im Würzburger Fall hätten Sondereinheiten der Polizei nur dann einschreiten können, wenn sie sich zufällig im selben Kaufhaus aufgehalten hätten.

Viele, aber nicht alle Amoktäter sind oder waren psychisch krank. Der Täter von Würzburg war in der Zeit vor der Bluttat psychisch auffällig und wurde in die Psychiatrie eingewiesen. Mit Blick auf Selbst- oder Fremdgefährdung wurde jedoch die psychische Verfassung des jungen Manns von den dortigen Ärzten so beurteilt, dass man ihn nicht gegen seinen Willen im Krankenhaus behalten konnte.

Hätte ihn die Polizei nach den aggressiven Vorfällen in den Obdachloseneinrichtungen, in denen Streit alltäglich vorkommt, als islamistischen „Gefährder“ einschätzen sollen? Auf welcher Grundlage? Auch jetzt, nach intensiven Durchsuchungen und Befragungen, gibt es wenig handfeste Hinweise, außer seinen „Allahu akbar“-Rufen bei den Angriffen, und dem, was er nach seiner Festnahme geäußert haben soll.

Die Tat eines anderen jungen Manns, der damals hundertprozentig zu seiner Gesellschaft gehörte, bedeutete für die Geschichtsschreibung des Amoks in den USA einen Wendepunkt. Der Amoklauf des Ex-Marine Charles Whitman an der Universität Austin in Texas mit fast 20 Toten und 45 Verwundeten geschah 1966 im tiefen Frieden. Die Hochschule ist eine der schönsten US-Universitäten, Austin eine friedliche Stadt. In diesen Frieden brach eine militärische Handlung gegen Menschen ein, die kein Verschulden trifft, die – wie in Würzburg – zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort sind.

Der Ausdruck Amok hat sich inzwischen verselbstständigt und wird bei uns in der Berichterstattung auch benutzt, wenn Familienväter die Frau, die Kinder, das Au-pair-Mädchen und die Tante, die zufällig zu Besuch ist, töten, weil das Geschäft bankrott ist, das Haus und das Auto nicht bezahlt werden können.

Was zuhause geschieht, ist nicht öffentlich

Aber das ist nicht öffentlich, es findet im Haus statt. „Familientragödie“ ist dafür ein äußerst irreführender Ausdruck. Der Schock trifft den sozialen Nahraum, die nahestehenden Familienangehörigen, die Nachbarschaft und manchmal das ganze Dorf oder den Stadtteil.

Taten wie in Würzburg treffen, gleichgültig wie sie definiert werden, die Gesellschaft, in der sie geschehen. Sie lösen Unverständnis und einen Schockzustand aus. Unsere Ohnmachtsgefühle gegenüber solcher Grausamkeit, vor allem die Erklärungswut der Medien und „Experten“, setzen stets eine Kette von Ursachenvermutungen und Schuldzuweisungen in Gang.

Würden wir dies bei den oben erwähnten Gewaltvorfällen in der Familie, bei der sogenannten häuslichen Gewalt mit ihrer hundertfach höheren Opferzahl mit ähnlicher Akribie betreiben, gäbe es vielleicht weniger tödliche Eskalationen im trauten Heim.

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ist Soziologe und Kriminologe und war bis 2013 Professor für Allgemeine Polizeiwissenschaften an der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster. Derzeit koordiniert er ein EU-Forschungsprojekt zur Bekämpfung häuslicher Gewalt.

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