Selbstoptimierung, Patriarchat, Jogi Löw: Freiheit und Freiheitsmutationen

Die bunten Erscheinungsformen der Freiheit reichen von peinlich bis weit über besorgniserregend. Manche verwechseln sie auch mit faulen Ausreden.

Markus Söder sitz auf den Rängen des EM-Stadions und trägt eine Mundschutzmaske in Regenbogenfarben

Gesicht zeigen, äh… Maske: Markus Söder am Mittwoch in der EM-Arena in München Foto: Christian Charisius/dpa

Die Minderjährige, die zu meiner Infektionsgemeinschaft gehört, findet, dass alte Menschen – also ich – zu rückwirkender Selbst­optimierung neigen. Ich stelle hierzu fest: Es stimmt. Leider. Ich habe mich tatsächlich als eine nicht sehr fleißige, aber doch recht gute Schülerin in Erinnerung mit zuweilen herausragenden Leistungen in Deutsch, Englisch und Geschichte. Jüngst jedoch fielen der Minderjährigen Zeugnisse aus meiner Jugend in die Hände, die auch mich überraschten.

Genüsslich wurde der Durchschnitt verschiedener Jahrgänge errechnet und mit den eigenen verglichen, was noch weniger schmeichelhaft war. Mein Mitspracherecht in der Debatte über zu erledigende Hausaufgaben und die Vorbereitung auf Klassenarbeiten ist seitdem so beschädigt wie der Lebenslauf von Annalena Baerbock. Man könne nicht nur schulische Pflichten erledigen und gleichzeitig Netflixserien anschauen, heißt es nun, sondern auch mit weniger guten Noten einen Job finden.

Sonst hätte ich ja keinen. Womöglich kommt auch bald heraus, dass ich in Bewerbungsschreiben fälschlicherweise behauptet habe, ich sei flexibel und anpassungsfähig. Ich gedenke mich mit dem Argument zu verteidigen, dass es unter die Freiheit der Selbstoptimierung fällt. Denn glücklicherweise wird der Begriff der Freiheit dank des grünen Parteivorsitzenden Robert Habeck inzwischen flexibel und anpassungsfähig definiert. Freiheit kann bedeuten, von Bussen und Lkws unbedrängt auf dem Fahrrad zur Arbeit zu fahren.

Oder sich als Land­wir­t*in dem Preisdiktat von Aldi und Lidl zu entziehen und Ökobauer zu werden. Es kann heißen, ein Hemd nur vorne zu bügeln oder Grünkohlkönig zu werden. Oder aber sich ohne Rücksicht auf die Wahlerfolgsaussichten die Kanz­ler*­in­kandi­da­tur zu schnappen und immer die gleichen Phrasen zu dreschen. Freiheit kann sein, sich zum Kanzlerkandidaten zu erklären, obwohl man bald schon fürchten muss, unter die Fünfprozenthürde zu fallen. Letzteres bezieht sich auf einen Politiker, dessen Name mir gerade nicht einfällt.

Ich glaube, er fing mit „Sch“ an, kommt aus Hamburg und hatte mal eine leidenschaftliche Liebesbeziehung zur schwarzen Null. Im Saarland ist diese Woche indes eine seltene grüne Freiheitsmutation aufgetaucht, die in Berlin mit großer Besorgnis beobachtet wird. Die saarländischen Grünen haben sich einfach die Freiheit genommen, der ohne Gegenkandidatin angetretenen Frau auf Listenplatz 1 nicht ihre Stimme zu geben. Dreimal hintereinander.

Patriarchalischer Leistungsdruck

Man muss annehmen, sie haben tatsächlich nicht verstanden, dass sie in einem solchen Fall nur die Freiheit haben, Ja zu sagen. Stattdessen wählten sie einfach einen Mann auf Platz 1. Mutationen, das wissen wir, sind hochgefährlich. In diesem Fall führt der verantwortungslose Umgang mit der Freiheit dazu, dass das heilige Frauenstatut der Grünen gefährdet ist. Der Feminismus wäre nämlich am Ende, wenn grüne Kandidatinnen bei ihrer Wahl auch noch um das Vertrauen der Mitglieder kämpfen müssten.

So ein Leistungsdruck ist patriarchalisch und mit der grünen Freiheit nicht zu vereinbaren. Da gibt’s was auf den Helm, Leute! Ich persönlich definiere Freiheit als die Abwesenheit von Fußballevents und ihren Fanartikeln. Ich meine nicht nur die allgegenwärtigen Fahnen und ständigen Gespräche. Ein Kollege postet derzeit auf Twitter dauernd „Jogi“, obwohl er eigentlich wissen müsste, dass es „Joga“ heißt. Derzeit ist man nicht einmal auf der Toilette sicher.

Erschrocken musste ich feststellen, dass das Klopapier in einer Gaststätte mit Fußbällen und Spielfeldern bedruckt war. Unter solchen Umständen kann ich mich nicht frei entfalten. Wenigstens gab es diese Woche ein Fußballereignis, bei dem ich halbwegs verstand, worum es ging – um die Freiheit nämlich. Aus Protest gegen die neuen homophoben Gesetze in Ungarn wollte die Stadt München beim Länderspiel Deutschland gegen Ungarn das EM-Stadion in Regenbogenfarben illuminieren.

Wurde von der Uefa aber als politisches Statement untersagt. Dafür bekamen wir Markus Söder mit Regenbogenmaske beim Spiel zu sehen. Freut mich sehr, dass der sich endlich outet. Was ich aber nicht verstehe: Warum, liebe Nationalmannschaft, konntet ihr das Spiel für die LGTBI-Freiheit nicht mal schön gewinnen? 10:0 zum Beispiel? Armbinde kann ja jeder tragen. Für die Minderjährige bedeutet Freiheit auf jeden Fall die Abwesenheit von Sport ganz generell.

Basketballspielen war eine Verirrung der frühen Jugend. Heutzutage umfasst für sie Freiheit alles, was vom Sofa aus erledigt werden kann. Katzenklo, Schreibtisch, ein Spaziergang mit dem Hund fallen nun mal nicht in diese Kategorie. Und Arbeiten im Haushalt verstoßen gegen die Kinderrechte, leider, sonst würde sie es natürlich gerne machen. Ich geh dann mal putzen.

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