Flucht aus Belarus: Auf nach Batumi!

Immer mehr Be­la­rus­s*in­nen verlassen aus Angst vor Repressionen ihr Land. Olga Deksnis erzählt vom Leben in Minsk in stürmischen Zeiten. Folge 101.

Skyline Batumi und das Meer im Abendhimmel

Auftanken in Batumi Foto: Frank Sorge/imago

Im August 2020 ging es los: Menschen, die gegen die illegitime Staatsmacht protestierten, wurden mit Gewalt auseinander getrieben und zusammen geschlagen. Viele Be­la­rus­s*in­nen begannen, ihr Land zu verlassen. Das war logisch und verständlich. Denn die Menschen waren nicht nur eingeschüchtert, sondern misshandelt worden. Einige verloren ihre Fähigkeit zu handeln.

Uns schien, etwas sei dabei sich zu ändern. Die Be­la­rus­s*in­nen gingen sonntags auf die Straße, versammelten sich in Höfen, tranken Tee und bekundeten ihre Solidarität. Als auch noch die Fa­brik­ar­bei­te­r*in­nen sowie die Belegschaft von Krankenhäusern, Universitäten und Schulen auf die Straße gingen, sahen wir darin eine Chance und Hoffnung keimte auf. Doch alle wurden fertig gemacht. Einige wurden gefeuert, andere mit Arrest bedroht oder festgenommen, wieder andere des Landes verwiesen.

Записи из дневника на русском языке можно найти здесь.

Und was sehe ich jetzt in Belarus? In den sozialen Netzwerken kursieren Posts wie „Ich habe das Land für mindestens ein Jahr verlassen“, „Ich habe mein Kind in Kiew im Kindergarten angemeldet, solange ich so erschöpft bin“, „Ich bin schon in Warschau, habe den Hund mitgenommen und warte jetzt auf meinen Mann“, „Ich bin in Batumi, solange mein Mann, ein Menschenrechtler, im Gefängnis ist.“

Die belarussische Staatsmacht hat auch das geschafft. Der Schriftsteller Wiktor Martinowitsch sagt dazu: „Im Ausland trinkt man Kaffee und um einen herum sind nur Ausländer*innen. Aber es ist schön, am Morgen einen Amerikano unter Be­la­rus­s*in­nen zu trinken. Andererseits ist die Hälfte der Leute aus eigenen Telefonverzeichnis schon weg gegangen. Beim halb leeren Zentralnij (ein berühmtes Café im Zentrum von Minsk) siehst Du jetzt hinter dem Tresen weniger Bekannte, als in den Hauptstädten der Welt – sei es im Norden, Süden oder Westen. In Minsk wird man nach und nach selbst zu einem Ausländer. Wir erinnern uns aus der Psychologie an die Maslowsche Bedürfnispyramide. Dort heißt es, dass nach dem zweiten Grundbedürfnis „Ich habe geschlafen und bin nicht hungrig“ kommt: „Ich bin beschützt, habe keine Angst und bin in Sicherheit“.

Belaruss*innen, die irgendwie mit den Protesten zu tun hatten, haben dieses Grundgefühl von Sicherheit heutzutage nicht mehr. Wir nehmen Beruhigungsmittel, aber die helfen nicht. Das Bedrohungsgefühl verstärkt sich. So verlassen wir unser Land, um der direkten Gefahr zuvor zu kommen.

Ich habe mich ebenfalls dafür entschieden, nach Georgien und zwar nach Batumi, zu gehen. Dort werde ich zusammen mit meiner Tochter in Sicherheit sein. Übrigens: In dieser Stadt gibt es einen Chat für Belaruss*innen. Vor einem Monat waren dort 500 Personen unterwegs, jetzt sind es schon 700.

Jemand hat darauf hingewiesen, dass dies ein trauriger Trend sei. Vor kurzem begrüßten belarussische Ak­ti­vis­t*in­nen direkt auf der Landebahn in der Nähe des Flughafens eine Maschine von „Belavia“ mit weiß-rot-weißen Flaggen.

„Olga, wenn Sie irgendwo für ein paar Tage unterkommen müssen, dann erwarte ich Sie“, schrieb mir Anna. Sie ist Übersetzerin und mit einem Juristen des Menschenrechtszentrums Vjasna (Frühling) verheiratet, der im Gefängnis sitzt und einer Straftat beschuldigt wird. Die Staatsmacht hat drei Kindern ihren Vater weg genommen.

„Wissen Sie, ich weiß gar nicht, was ich in dieser Situation sagen soll, mit welchen Worten ich Sie unterstützen soll“, entgegne ich ihr.

„Worte sind nicht nötig, für uns es wichtig zu wissen, dass ein Mensch in der Nähe ist. Wenn Sie keine Hilfe brauchen, kommen Sie einfach zu Besuch.

Während ich dabei war, eine Unterkunft in dem neuen Land zu suchen, habe ich eine starke Solidarität der Be­la­rus­s*in­nen in Georgien gespürt. Die Leute helfen einfach, obwohl ich um nichts bitte: Jemand will dabei behilflich sein, eine Wohnung zu finden oder er bzw. sie bietet eine Übernachtungsmöglichkeit an.

Jemand lädt zu einer Solidaritätskundgebung ein und alle antworten schnell und ganz offen im Chat. So erkrankte beispielsweise ein Belarusse an Covid und er benötigte dringend einen Apparat zur Rehabilitation. Innerhalb weniger Tage sammelten die Be­la­rus­s*in­nen für ihn Geld.

Und in diesem Übergangszustand tauchte etwas in mir auf. Sollte ich nicht diese schöne Stadt am Meer zeitweise zu einem Ort der Kraft und Unterstützung für verfolgte Be­la­rus­s*in­nen machen? Jetzt überlege ich, wie das finanziell zu stemmen ist. Aus Gesprächen mit Be­la­rus­s*in­nen in Georgien weiß ich, dass das so aktuell wie noch nie ist. Und das wir alle das brauchen.

Aus dem Russischen Barbara Oertel

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35 Jahre alt, lebt in Minsk und arbeitet bei dem Portal AgroTimes.by. Sie schreibt über besonders verwundbare Gruppen in der Gesellschaft: Menschen mit Behinderung, LGBT, Geflüchtete etc.

Mehr Geschichten über das Leben in Belarus: In der Kolumne „Notizen aus Belarus“ berichten Janka Belarus und Olga Deksnis über stürmische Zeiten – auf Deutsch und auf Russisch.

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