Neue und krisenfeste Sozialpolitik: Alle müssen mehr zahlen

Die Sozialpolitik wie wir sie kennen ist am Ende. Für Corona- und Klima-Krisenfestigkeit braucht es einen modernen Sozialstaat. Das heißt aber auch: Höhere Abgaben und Steuern.

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Von UDO KNAPP

In der Corona-Krise hat der im Grundgesetz abgesicherte Sozialstaat in den letzten zwei Jahren seine den gesellschaftlichen Frieden stabilisierende Funktion unter Beweis gestellt. Beiträge der Bürger und aller Unternehmen zu den Sozialversicherungen und der Gesundheitsversorgung, staatsfinanzierte Sicherungssysteme, vom Arbeitslosengeld bis zu Hartz IV, Fürsorgesysteme für alle, die öffentliche Hilfen brauchen, und die verwaltenden und steuernden Institutionen auf allen Ebenen – vom Gesundheitsamt, den Wohlfahrtsverbänden, der Feuerwehr, dem THW und der fachlich zuständigen Wissenschaft bis zu den zuständigen Ministerien – agieren im Sozialstaat zusammengebunden als das feste Rückgrat des gesellschaftlichen Zusammenhaltes in der Bundesrepublik. Sie bilden im Übrigen den sozial sicheren Rückraum für die Debatten über den angeblich willkürlichen Freiheitsverlust durch seuchenbedingt notwendige, einschränkende Regeln, die das Coronavirus eindämmen sollten und nun schon zum dritten Mal erfolgreich eindämmt haben.

Die Bundesregierung und alle zuständigen Parlamente haben Steuermittel eingesetzt, um Masken, Impfstoffe, Ausstattungen von Intensivstationen, Reha-Maßnahmen, Forschung, Produktion, Einkauf und Einsatz der Impfstoffe und die pandemiebegleitende Gesundheitsforschung sicherzustellen. Abgesehen von dem Besserwisser-Gemecker, das zu offenen demokratischen Gesellschaften gehört, sowie dem Geschrei von einem angeblichen Politikversagen in der Krise, trägt das Gros der Gesellschaft diese betont exekutiv ausgelegte Sozialpolitik im Corona-Notstand aktiv mit.

Gleichwohl ist in der Pandemie die soziale Ungleichheit in der Gesellschaft wieder einmal und jenseits ihrer Relativierung als soziales Gedöns sichtbar geworden. Mit der Folge, dass die strukturellen Defizite in der Wohnungs-, der Familien-, der Gesundheits-, der Rentenpolitik, der Bildungspolitik et cetera mehr Beachtung gefunden haben. Verstärkt wird dieser erstaunende Bewusstseinsschub noch durch die neuen Zwänge der Klimapolitik. Auch wenn die Klimaaktivisten diesen Zusammenhang kaum beachten: Die Klimakrise wirkt, wie das Coronavirus, als großer Störer im ansonsten still gestellten sozialen Status quo. Dabei liegt es auf der Hand, dass die Folgen der Dekarbonisierung unseres gesamten Lebens und der Digitalisierung mit hohen sozialen und sozialkulturellen Veränderungen verbunden sein werden. Das reicht vom massenhaften Nicht-Gebrauchtwerden-Werden auf den Arbeitsmärkten bis zu dennoch steigenden Lebenshaltungskosten, Konsumverzicht für jeden Einzelnen und einer noch ungerechteren Reichtums-Verteilung. Die Klimaaktivisten verkennen, dass die sozialen Folgen des Klimawandels, werden sie nicht rechtzeitig neben der ökologischen Neuaufstellung der industriellen Produktion umfassend adressiert, jede vernünftige Klimapolitik über den Stimmzettel ausbremsen werden.

Strukturelle Anpassungen der Sicherungssysteme sind machbar

Dabei sind strukturelle Anpassungen aller sozialen Sicherungssysteme an die Herausforderungen nicht nur vorstellbar, sie sind auch machbar. Allerdings nicht in der politischen Logik der bisherigen Sozialpolitik. Diese Sozialpolitik denkt vor allem in höheren Geldleistungen für die Bürger und niedrigeren Belastungen für sie, anstatt in Effizienz- und Qualitätshorizonten für alle sozialen Dienstleistungen und deren Strukturen. Drei Beispiele und eine Frage.

Beispiel 1: Das Gesundheitssystem in der Bundesrepublik kann kostensparend in eine öffentlich bestimmte, evidenzbasierte, effizientere und eine bessere Qualität sichernde Versorgungslandschaft umgebaut werden. Es gibt viel zu viele kleine Krankenhäuser mit zwangsläufig nur durchschnittlicher Qualität und zu wenige, sinnvoll auf Evidenzbasis arbeitende, überregionale, große Häuser. Natürlich gehören in einem solchen System die niedergelassenen Ärzte, die medizinischen Versorgungszentren (MVZ), alle Institutionen der Pflege und alle übrigen Gesundheitsdienstleistungen unter einen das Notwendige integrierenden Hut.

Beispiel 2: Sinnvoller, als das Kindergeld zu erhöhen, wäre es etwa, die Kindergartenplätze zu erhöhen, sie besser auszustatten und die Erzieher angemessen zu entlohnen.

Einen modernen Sozialstaat müssen alle gemeinsam finanzieren

Beispiel 3: Mit 12,50 Euro Mindestlohn ändert sich an der realen Ungleichheit der Lebenschancen wenig, während zugleich der flächendeckende verbindliche Ausbau aller Schulen zu Ganztagsschulen mit hoher Selbstständigkeit und Durchlässigkeit nicht vorankommt.

Die Frage: Ist es nicht vorstellbar, dass zum Beispiel das Impfen durch die Ärzte, anstatt zu erstaunlichen Zusatzeinkommen für sie zu führen, als unbezahlte, pflichtige Dienstleistung an der Gesundheit aller von ihnen durchgeführt wird?

Das letztlich nicht einlösbare Mantra von der Verteilung des vielen Geldes der Reichen für ein gerechteres Leben für alle anderen mag das eine oder andere Mal mehr Finanzen in die öffentlichen Haushalte spülen. Substantielle Verbesserungen des sozialen Zusammenlebens aller, etwa zur Abmilderung der Corona-Lasten oder zur Anpassung der Lebensumstände an den Klimawandel, können auf diesem Weg nicht finanziert werden. Einen coronafesten, einen klimafesten hochmodernen, effizienten Sozialstaat müssen alle gemeinsam finanzieren und das mit viel höheren Abgaben, Beiträgen und Steuern als heute.

Freiheit von der Sorge um soziale Sicherheit kostet

„Weniger netto vom brutto – für einen coronafesten oder klimafesten Sozialstaat“ – darauf würden sich vermutlich alle Bürger einlassen, wenn sie sicher sein könnten, dass mit ihren hohen Abgaben staatlich gesteuerte Strukturen für alle soziale Dienstleistungen vorgehalten werden, die sie von vielen Sorgen um ihre soziale Sicherheit freistellen.

Es ist eine durchsichtiges und interessegeleitetes Bild, wenn gegen einen solchen starken, staatlich gelenkten Sozialstaat das Argument einer Überlegenheit von privat gesteuerten sozialen Dienstleistungen gegenüber staatlich „rationierter Bürokratieversorgung“ vorgetragen wird. In Corona-Zeiten oder in der Klimakrise zeigt sich, dass ein demokratisch legitimierter, starker Sozialstaat zwingend gebraucht wird. Dieser Sozialstaat braucht private Eigeninitiative nicht generell auszuschließen oder zu verbieten, aber er muss das öffentliche Interesse in jeder Hinsicht prioritär durchsetzen.

Krisenzeiten sind Großzeiten für Reformen. Das gilt auch für die Weiterentwicklung des Sozialstaates. Erfolgreiche Anti-Corona-Politik oder erfolgreiche Klimapolitik muss auch Corona- oder Klima-Sozialpolitik sein, sonst wird das friedliche und halbwegs gerechte Zusammenleben aufs Spiel gesetzt.

UDO KNAPP ist Politologe.

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