Hinter Gittern, weil sie nicht schwiegen

Weggesperrt, misshandelt, verurteilt: In Belarus sind mindestens 454 politische Gefangene in Haft. Ihr Vergehen: Sie protestieren gegen Staatspräsident Alexander Lukaschenko. Die taz stellt vier von ihnen vor

Olga Sieviaryniec wartet am Internierungslager in der Minsker Akrestsin-Straße auf die Freilassung ihres Manns Paval, 22. Juli 2020 Foto: Nadia Buzhan/ap

Von Gaby Coldeway

Dass ein Linienflugzeug, mit dem ein politisch unliebsamer Mensch aus dem Griechenland-Urlaub zurückkehrt, von einem Kampfjet abgefangen und zur Landung in einem Drittland gezwungen wurde, war der vorläufige Höhepunkt im Umgang des belarussischen Diktators Alexander Lukaschenko mit seinen Widersachern. „Das Regime kennt in puncto menschenrechtlicher und völkerrechtlicher Grundsätze keine Grenzen mehr“, kommentierte Amnesty International die spektakuläre Jagd auf den Blogger Roman Protassewitsch, der seitdem in Haft ist, wo er vermutlich gefoltert wird. Seit der Präsidentschaftswahl in Belarus vom 9. August 2020 werden Menschen, die gegen Lukaschenkos Regime protestieren, eingesperrt, gefoltert, verurteilt – und das wie am Fließband.

Als politische Gefangene werden diejenigen Menschen verstanden, die aus politischen oder weltanschaulichen Gründen inhaftiert sind. Haftbedingungen und -dauer stehen dabei nicht im Verhältnis zu den begangenen Straftaten.

Der Begriff des „anerkannten politischen Gefangenen“, von dem im Zusammenhang mit den Inhaftierten in Belarus häufig die Rede ist, stützt sich auf einen Leitfaden, den Menschenrechtsorganisationen aus verschiedenen osteuropäischen Ländern, darunter auch Belarus, basierend auf der Arbeit des Europarates und der von Amnesty International verwendeten Definition gemeinsam erarbeitet haben.

Politische Gefangene sind kein neues Phänomen in Lukaschenkos Staat. Doch die rasant steigende Zahl an politisch motivierten Verhaftungen hat mit dem offensichtlich gefälschten Wahlergebnis im vergangenen Jahr eine neue Dimension erreicht.

Unter den Gefangenen sind namhafte Politiker, wie der Blogger Sergei Tichanowski, der nach seiner Ankündigung zur Präsidentschaftskandidatur schon am 29. Mai 2020 inhaftiert wurde, sowie der oppositionelle Präsidentschaftskandidat Wiktor Babaryko, in Haft seit dem 18. Juni.

Spektakulär war die Verhaftung von Maria Kolesnikowa, Leiterin des Wahlkampfbüros von Babaryko. Sie wurde am 7. September in Minsk entführt, eine erzwungene Abschiebung in die Ukraine scheiterte. Erst zwei Tage später wurde ihre Inhaftierung bestätigt. Alle drei sind bis heute in Haft.

International bekannt wurden weitere Fälle: Am 21. Mai 2021 starb der 50-jährige Oppositionspolitiker Witold Aschurok nach fünf Monaten Lagerhaft – angeblich an Herzstillstand. Der 18-jährige Dmitri Stachowski, angeklagt wegen „Beteiligung an Massenunruhen“, beging am 25. Mai in der Haft Suizid. „Wenn der moralische Druck auf mich nicht weitergegangen wäre, hätte ich es nicht gewagt, eine so schreckliche Tat wie Selbstmord zu begehen. Aber meine Ausdauer war erschöpft“, schrieb er in einem Abschiedsbrief. Einige der Gefangenen sind noch nicht einmal volljährig, wie Nikita Solotorew der im vergangenen August als 16-Jähriger verhaftet und im Februar zu fünf Jahren Jugendstrafkolonie verurteilt wurde.

Die Vorwürfe gegen die Angeklagten sind immer die gleichen: Aufruf zu und Teilnahme an Massenunruhen (Paragraf 293 des Strafgesetzbuches der Republik Belarus), Landfriedensbruch (Paragraf 342), Widerstand gegen Mitarbeiter der Ordnungskräfte (Paragraf 363) sowie Steuerhinterziehung (Paragraf 243). Diese Anklagen können jahrelange Freiheitsstrafen, Misshandlungen und Folter zur Folge haben.

„Das Regime kennt in puncto menschen­rechtlicher und völker­rechtlicher Grundsätze keine Grenzen mehr“

Amnesty International

Menschenrechtsorganisationen und Häftlinge berichten von regelrechten Folterkammern, in denen die Gefangenen von anderen Häftlingen systematisch gequält und terrorisiert werden, um sie geständig zu machen und psychisch zu brechen.

Im Falle des entführten Bloggers Roman Protassewitsch kommt noch der Vorwurf nach Paragraf 130 (Aufstachelung zu rassistischer, nationaler, religiöser oder anderer sozialer Feindseligkeit oder Hass) hinzu. Seine im Fernsehen übertragenen angeblichen Geständnisse, in denen er Alexander Lukaschenko lobte, sind offenbar unter dem Eindruck von Misshandlungen und Drohungen entstanden.

Der im litauischen Exil lebende Protassewitsch hatte vor seiner Festnahme befürchtet, er könne in Belarus vom Tod bedroht sein. Beobachter befürchten, dass diese Furcht real sein könnte. Belarus ist das einzige Land Europas, in dem noch die Todesstrafe existiert.

Die belarussische Menschenrechtsorganisation „Wjasna“ („Frühling“) zählte mit Stand vom 1. Juni 2021 454 anerkannte politische Gefangene in Belarus.