Die Helden von morgen

Für viele Ak­ti­vis­t*in­nen ist ziviler Ungehorsam wegen der Klimakrise notwendig. Dass sie kriminalisiert werden, nehmen sie in Kauf. Die Geschichte könnte ihnen recht geben

„Wir sind mittendrin in der Klimakatastrophe. Dies ist die letzte Chance, etwas zu ändern“, sagt Lou Winters, Spre­cherin der Berliner Gruppe von „Sand im Getriebe“. Rechts Mitstreiter Jassin Braun Foto: André Wunstorf

Von Susanne Memarnia

Ziviler Ungehorsam ist en vogue in der Klimaschutzbewegung. Schü­le­r*in­nen von Fridays for Future (FFF) schwänzten monatelang freitags die Schule (und würden es wohl noch tun, wenn Corona nicht wäre), Ak­ti­vis­t*in­nen von Ende Gelände (EG) besetzen Braunkohletagebaue und gefährdete Wälder, Re­bel­l*in­nen von Extinction Rebellion (XR) blockieren Straßen, kleben sich an Partei- und Konzernzen­tralen. Mit der angekündigten „Massenblockade“ auf der A 100 durch „Sand im Getriebe“ (SiG) am Samstag kommt ein neuer Zielort für Proteste hinzu: Autobahnbaustellen.

Dass immer mehr unbescholtene Bür­ge­r*in­nen es wagen, die Schwelle des erlaubten Protests zu übertreten und den Konflikt mit dem Gesetz suchen, hat zwei Gründe. Da ist zum einen die Bedrohung durch die Klimakrise, die existenzielle Angst vor einer globalen Vernichtung von Leben und Lebensräumen, die aus Sicht der Ak­ti­vis­t*in­nen sofortiges Handeln erfordert. „Wir sind mittendrin in der Klimakatas­trophe, dies ist die letzte Chance etwas zu ändern“, sagt Lou Winters, Sprecherin der Berliner Gruppe von SiG.

Hinzu kommt der Frust, dass legale Protestformen nichts geändert haben. „Die Politik versagt, handelt nur im Interesse von Konzernen. Darum müssen wir mit unseren Körpern dafür sorgen, dass etwas passiert“, glaubt Winters. Ähnlich sieht es Tino Pfaff, Sprecher von XR: „Seit 40 Jahren reden wir über die Bedrohungen durch die Klimakrise. Menschen demonstrieren, schreiben Petitionen – nichts hat gewirkt.“ Darum müsse man mit „symbolischen Aktionen“ wie Straßenblockaden „größtmögliche Aufmerksamkeit für das Thema erzielen“.

Mit den verschiedenen Formen des zivilen Ungehorsams (ZU) greift die Klimabewegung auf eine seit der Antike bekannte Praxis zurück, die immer wieder erfolgreich war. Die prominentesten Beispiele jüngeren Datums sind wohl die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung und der indische Unabhängigkeitskampf von Mahatma Gandhi. „Generell ist ziviler Ungehorsam legitim, weil demokratischer Fortschritt in den seltensten Fällen aus dem politischen System selbst heraus geschieht. Meist bedarf es dazu ‚radikaler’ Proteste“, erklärt Robin Celikates, Philosoph mit einem Lehrstuhl für praktische Philosophie an der Freien Universität. „Ob ZU im konkreten Einzelfall tatsächlich gerechtfertigt ist, kann nur die demokratische Öffentlichkeit entscheiden.“

Auch SiG und XR berufen sich auf historische Beispiele wie die Arbeiter*innenbewegung. „Ohne bewusste Übertretung von Gesetzen gibt es keine Veränderung“, ist Jassin Braun, Aktivist von SiG, sicher. Die Tatsache, dass vor wenigen Wochen das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) das Klimaschutzgesetz der Bundesregierung als unzureichend verworfen hat, ist für ihn kein schlagendes Gegenargument. „Das Urteil ist ein Erfolg der Klimabewegung und des zivilen Ungehorsams von Gruppen wie Ende Gelände.“ Celikates stimmt zu. „Ohne massenhafte Klimaproteste hätte es dieses Urteil zumindest nicht jetzt und in dieser Form gegeben.“ Mehr noch: Da nun alles auf die politische Umsetzung des Gerichtsurteils ankomme, „braucht es weiterhin politischen Protest und Aktivismus“.

Demokratischer Fortschritt geschieht in den seltensten Fällen aus dem politischen System selbst heraus“

Robin Celikates, Philosoph FU Berlin

Um damit bei der Mehrheitsgesellschaft zu punkten, betonen die meisten Gruppen ihren gewaltlosen Charakter. Denn in den westlichen Demokratien ist es weitgehend Konsens, dass ZU gewaltfrei zu sein hat. Celikates sieht dies anders: Warum, fragt er, sollten Proteste gegen massives Unrecht, die Sachbeschädigung, minimale Gewalt zur Selbstverteidigung oder gegen die eigene Person umfassen, per se unvereinbar sein mit ZU? Pfaff erklärt, bei XR sei es der „größte Konsens“ in den allermeisten Gruppen, dass man keine Gewalt anwende, „auch nicht gegen Dinge“. Bei SiG gibt es den „Aktionskonsens, dass von uns keine Eskalation ausgeht“, sagt Winters.

Auf die Frage, wie sie es mit Sachbeschädigung halte – ob etwa jüngst der Kabelbrand an der Tesla-Baustelle in Grünheide, zu dem sich eine „Vulkangruppe“ bekannte, legitimer ziviler Ungehorsam sei – antwortet Winters sibyllinisch: „Die Klimabewegung lebt von der Vielfalt der Mittel.“ Und: SiG stehe in der Tradition von Ende Gelände: „Wir gehen an die Orte der Zerstörung.“ Soll heißen: Man zerstört nicht selbst, sondern zeigt auf das, was andere – Kohlekonzerne, die Autobahn GmbH – zerstören.

Zentral ist die Gewaltfrage in der juristischen Auseinandersetzung. Wie Celikates erklärt, kann laut Bundesgerichtshof und BVerfG schon eine Straßenblockade „Nötigung mit Gewalt“ sein. Dagegen stehe allerdings das Recht auf Versammlungsfreiheit, „so dass Richter und Staatsanwälte diesen Weg nicht gehen müssen.“

Tatsächlich sind Verurteilungen wegen Nötigung nach Straßenblockaden eher selten, so die Erfahrung von Lukas Theune. Der Rechtsanwalt hat mehrfach Kli­maak­tivis­ti*­in­nen vor Gericht verteidigt, etwa von XR, die bei der „Rebellion Wave“ 2019 in Berlin Kreuzungen blockiert haben. Meist habe es Anklagen wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte gegeben, sagt er; dies aber nur für Aktivist*innen, die sich angekettet hatten, etwa an Fahrzeuge – nicht für diejenigen, „die nur auf der Straße saßen“. Die meisten dieser Verfahren seien wegen Geringfügigkeit eingestellt worden. „Manche Richter haben auch gesagt, sie würden es honorieren, dass sich junge Leute dafür einsetzen, dass es den Planeten noch eine Weile gibt.“

Auch Celikates weiß von Urteilen gegen Klimaaktivist*innen, bei denen Rich­te­r*in­nen Verständnis zeigten für die Motive der Angeklagten und „milde“ urteilten. Es gebe aber auch das Gegenteil: „Manche meinen, man müsse zivilen Ungehorsam noch härter bestrafen, weil sich die Ak­ti­vis­t*in­nen ja über das demokratisch zustande gekommene Gesetz stellen.“

Schon ikonische Bilder der Klimaprotestbewegung: Ende Gelände blockiert 2016 einen Tagebau in der Lausitz Foto: Christian Mang

Michèle Winkler vom Grundrechtekomitee kann jedenfalls keinen Trend erkennen, dass Gerichte verständnisvoll über Kli­ma­ak­ti­vis­t*in­nen urteilen. Im Gegenteil, sie sieht Ak­ti­vis­t*in­nen aufgrund des Risikos von Zivilklagen durch Konzerne unter Druck. Diese arbeiteten mit Unterlassungserklärungen, die Ak­tivs­t*in­nen unterschreiben müssen, die einmal bei einer Besetzung polizeilich identifiziert wurden. „Bei Zuwiderhandlung drohen ihnen drakonische Vertragsstrafen von mehreren tausend bis zehntausend Euro“, erklärt sie. Bislang seien alle Prozesse, mit denen sich Ak­ti­vis­t*in­nen gegen solche Erklärungen wehrten, verloren gegangen. Winkler: „Diese Strategie greift um sich: RWE hat es vorgemacht, dann kamen die Kohlekonzerne in der Lausitz und im Leipziper Land, jetzt macht es der Fleischkonzern Tönnies nach.“

Celikates warnt ebenfalls vor der Illusion, dass die Adressaten von Klimaprotesten nicht alles unternehmen würden, um die Bewegung zu kriminalisieren. „Die Konzerne haben enorme Druckmittel und Ressourcen. Auch Teile der Politik werden alles versuchen, um deren Interessen zu verteidigen.“ So stünden die Be­set­ze­r*in­nen von Ende Gelände ja schon als „Linksradikale“ im Verfassungsschutzbericht (siehe Text rechts).

Gut möglich also, dass es der Klimabewegung so ergeht wie früheren Bewegungen des zivilen Ungehorsams. Oft war es nämlich so, sagt Celikates: „Zu ihrer Zeit wurden sie als Terroristen bezeichnet. Für uns heute sind sie Helden.“