Buch über westliche Demokratien: Die schwächelnde Demokratie

Colin Crouch unterzieht sein Buch „Postdemokratie“ einer Korrektur und warnt in seinem neuen Buch vor nostalgischen Pessimismus.

Demonstrationsmenge in Polen bei Nacht auf der Straße

In Polen will die Regierung das Abtreibungsrecht einschränken Foto: Leszek Szymanski/dpa

Es kommt selten vor, dass ein Sozialwissenschaftler gleich im Vorwort eines neuen Buches einräumt, er habe sich in seiner früheren Darstellung geirrt. Der britische Soziologe Colin Crouch, bekannt geworden mit seinem 2003 im Original und 2008 auf Deutsch erschienenen Buch „Postdemokratie“, bekennt sich zu früheren Irrtümern.

Anfang des 21. Jahrhunderts hatte er konstatiert, die Demokratie verkomme in vielen westlichen Gesellschaften zur bloßen Hülle, Parteien und Regierungen manipulierten die öffentliche Meinung, sie reagierten kaum noch auf die Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger, die Macht konzentriere sich in den Händen kleiner Eliten und in den Chefetagen der Wirtschaft.

In „Postdemokratie revisited“ stellt er knapp zwanzig Jahre später fest, er habe seinerzeit die Vitalität der verfassungsmäßigen Ordnung und der demokratischen Institutionen noch überschätzt. Überall in der entwickelten Welt sei es um die Demokratie schlechter bestellt als zu Beginn des Jahrhunderts, schreibt Crouch.

Inzwischen hätten fremdenfeindliche, populistische und nationalistische Bewegungen – Crouch nennt sie „nostalgischer Pessimismus“ – demokratische Institutionen wie Justiz, Rechtsstaat und Parlament zwar nicht sturmreif geschossen, aber sie seien keineswegs mehr unantastbar.

Die Zeichen der Zeit erkennen

Wie sehr sich die politischen Koordinaten nach rechts verschoben haben, lässt sich an dem Umstand ablesen, dass viele der traditionell eher staats- und verfassungskritisch eingestellten linken Parteien und Bewegungen inzwischen vehement den Rechtsstaat und Parlamentarismus verteidigen. Sie haben die Zeichen der Zeit erkannt.

Ein Blick nach Ungarn, Polen, Brasilien oder in die USA des Donald Trump genügt, um Anschauungsmaterial für Crouchs These zu finden. Aber das Beispiel USA zeigt auch, dass es sich keineswegs um eine unumkehrbare Entwicklung handelt.

Colin Crouch: „Post­demokratie revisited“. Aus dem Englischen von Frank Jakubzik. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021, 278 S., 18 Euro

Unterschätzt hat Colin Crouch seinerzeit zudem die Funktion der sozialen Medien. Sah er früher in ihnen noch ein emanzipatorisches Werkzeug, eine demokratiefördernde Technologie, ist das Internet in seinen Augen heute ein manipulatives Instrument in den Händen gigantischer Konzerne und Diktaturen.

Aber der Autor beobachtet nicht nur einen zunehmenden Verfall westlicher Demokratien, er beschreibt auch gegenläufige Tendenzen, etwa die zunehmende Bedeutung sozialer Bewegungen. Der Feminismus oder die weltweite Klimabewegung haben mehr Präsenz und Gewicht gewonnen, als Crouch sich 2003 vorstellen konnte.

In schlechtem Zustand

Für den „schlechten Gesundheitszustand der Demokratie“ macht der Autor die Globalisierung und die Macht der weltweit operierenden Konzerne verantwortlich. Ihnen stehen relativ ohnmächtige Nationalstaaten gegenüber, deren Autorität zudem von dem (Irr-) Glauben untergraben wird, Regierungen seinen grundsätzlich inkompetent, Konzerne hingegen effizient.

Die Demokratie hat schlicht nicht mithalten können mit der globalen Ausbreitung des Kapitalismus. In Erinnerung ist beispielsweise noch der Auftritt Mark Zuckerbergs vor dem Europaparlament, der selbst eine scheinbar mächtige transnationale Vereinigung wie die EU wie einen zahnlosen Tiger aussehen ließ.

Aber Colin Crouch, der griffig und verständlich formuliert und den soziologischen Fachjargon vermeidet, ist kein Dogmatiker und Schwarzmaler, der den Untergang der Demokratie vor Augen hat. Die Demokratie mag in den vergangenen Jahrzehnten an Kraft verloren haben, geblieben ist immer noch ein umfangreiches Arsenal rechtsstaatlicher Institutionen, Haltungen und Werte. Und die gilt es zu verteidigen.

Manches, was Crouch empfiehlt, klingt vage und nach Allgemeinplätzen, etwa bessere Bildung als Mittel gegen Manipulation durch soziale Medien; ein Revival der Gewerkschaftsbewegung, wenn möglich unter weiblicher Führung; oder intensive internationale Zusammenarbeit auf Staats- und Regierungsebene, um die global agierenden Konzerne angemessen zu besteuern oder die Zerstörung des Klimas abzuwenden.

Was Corona zeigte

Ein Beispiel aus jüngster Zeit: Die Coronapandemie hat deutlich gemacht, wie abhängig wir sind von einem halbwegs solidarischen Gemeinwesen mit funktionierenden Institutionen. Und wenn Covid-19 hinter uns liegt, sollte eine Lehre sein, dass der Markt allein nicht für ein adäquates Gesundheitssystem sorgt.

Die politischen Maßnahmen zur Eindämmung des Virus hätten im Übrigen gezeigt, so der Autor, dass die ungarische Regierung als einzige in Europa weit über das vernünftige Maß an Einschränkungen hinausgegangen sei. Crouch sieht uns nicht auf dem Weg in die Coronadiktatur.

„Postdemokratie revisited“ ist mehr als reine Bestandsaufnahme und Analyse. Den Vormarsch der neoliberalen Globalisierung und des nostalgischen Pessimismus, den Crouch konstatiert, verbindet er mit einem Mahn- und Weckruf: Unterstützt die zivilgesellschaftlichen Gruppen, damit diese die selbstzufriedenen Parteien und eine gleichgültige Öffentlichkeit aufrütteln! Stärkt internationale Organisationen wie die EU als Gegengewicht zu mächtigen Konzernen! Verteidigt die Unabhängigkeit der Justiz, die unabhängigen Medien und die Autonomie der Wissenschaft!

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