Das Phantom scheint gefasst

Seit zweieinhalb Jahren erhielten die Anwältin Seda Başay-Yıldız und andere Drohschreiben, unterzeichnet mit „NSU 2.0“. Nun endlich scheint der Verfasser gefasst: Alexander Horst M., ein einschlägig vorbestrafter Mann aus Berlin. Doch die Betroffenen glauben noch nicht an einen Einzeltäter

Er sei Einzelgänger, der den ganzen Tag vorm Rechner sitze und eine große Begeisterung fürs Internet habe, gab der mutmaßliche Verfasser der „NSU 2.0“-Drohschreiben Alexander Horst M. an Foto: Fo­to:­Ca­van Images/imago

Aus Berlin und Frankfurt/Main Konrad Litschko
und Christoph Schmidt-Lunau

Es ist noch nicht die große Erleichterung, die Seda Başay-Yıldız am Tag nach der Festnahme des mutmaßlichen Verfassers der Serie rechtsextremer „NSU-2.0“-Drohschreiben erkennen lässt. Sie wolle sich nicht äußern, sagt die Frankfurter Anwältin der taz. Es sei noch zu vieles unklar. Wie genau kam der Tatverdächtige im August 2018 an ihre persönlichen Daten, die zuvor im Ersten Polizeirevier der Stadt abgerufen wurden? Wie kam er nach ihrem Umzug erneut an ihre gesperrte, streng geheime Adresse? „Da sind für mich zum jetzigen Zeitpunkt einfach noch zu viele Frage offen.“

Dennoch: Die Festnahme vom Montag scheint für die Ermittler endlich der entscheidende Schlag in der seit zweieinhalb Jahren währenden Drohserie des selbsternannten „NSU 2.0“, firmierend nach den mörderischen Rechtsterroristen des „Nationalsozialistischen Untergrunds“. Seit August 2018 hatte ein Unbekannter Drohmails an Başay-Yıldız, die heutige Linken-Chefin Janine Wissler, die Kabarettistin Idil Baydar, die taz-AutorIn Hengameh Yaghoobifarah und andere geschickt. Insgesamt 115 Schreiben gingen an 32 Personen und 60 Institutionen mit wüstesten Gewaltandrohungen. Im Fall von Başay-Yıldız, Wissler und Baydar waren sie auch Versehen mit persönlichen Daten, die zuvor auf Polizeicomputern in Frankfurt oder Wiesbaden abgerufen wurden. Andere Mails enthielten nur Beschimpfungen oder Daten, die auch anderweitig recherchierbar waren.

Zweieinhalb Jahre wurde dazu erfolglos ermittelt. Zweieinhalb Jahre, in denen der Verdacht anhielt, ob nicht auch Polizisten selbst hinter den Drohschreiben stecken könnten und ein rechtsextremes Netzwerk bis hinein in den Sicherheitsapparat. Bis am Montagabend, gegen 21 Uhr, Alexander Horst M. im Berliner Stadtteil Wedding festgenommen wurde.

Die Ermittler überraschten den erwerbslosen 53-Jährigen an seinem PC. Laut Zeit kamen sie letztlich wegen Leserkommentaren auf der islamfeindlichen Webseite „PI News“ auf ihn. Die Beiträge waren im Duktus der „NSU 2.0“-Drohschreiben verfasst. Zwei Stunden später vermeldete die Staatsanwaltschaft Frankfurt/Main die Festnahme via Presseerklärung. Mit dem expliziten Verweis, dass der Gefasste „zu keinem Zeitpunkt Bediensteter einer hessischen oder sonstigen Polizeibehörde war“.

Auch Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU), dem Betroffene mangelndes Engagement in der Affäre vorgeworfen hatten, jubelte: Sollte sich der Tatverdacht erhärten, wäre dies „ein ganz herausragender Ermittlungserfolg“. Dutzende unschuldige Opfer sowie die gesamte hessische Polizei könnten dann „aufatmen“.

Tatsächlich stand nicht nur Beuth mächtig unter Druck, sondern die gesamte hessische Polizei. Im Laufe der Ermittlungen wurde im Frankfurter Revier eine rechtsextreme Chatgruppe entdeckt, mehrere Beamte wurden suspendiert. Später musste auch Landespolizeipräsident Udo Münch zurücktreten, ein Sonderermittler wurde eingesetzt. Und der konnte nun mit seiner LKA-Ermittlungsgruppe den Erfolg vermelden.

Den Behörden war der festgenommene Alexander M. wohlbekannt. Aber es dauerte lange, bis den hessischen Ermittlern klar wurde, dass er offenbar auch der Verfasser der „NSU 2.0“-Drohschreiben war. Schon ab 1994 stand der alleinstehende, kinderlose Langzeitarbeitslose in Berlin immer wieder vor Gericht. Mal wurde er wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt, mal wegen Bedrohung, Beleidigung, Betrugs oder Urkundenfälschung. 1995 wanderte er auch für dreieinhalb Jahre in Haft.

2006 wurde Alexander M. dann erneut zu einer Haftstrafe verurteilt, die später zur Bewährung ausgesetzt wurde. Er hatte Schecks gefälscht und damit mehrere tausend DM abgehoben. Auch fanden Polizisten bei ihm zu Hause Disketten mit Kinderpornografie. Und: Alexander M. hatte den Leiter der Berliner JVA Moabit in dessen Büro und auf seinem Privatanschluss angerufen und ihn wild beschimpft, weil sich sein Bruder angeblich vor zwei Jahren in dem Gefängnis aufgehängt habe. „Ich werde mich rächen. Ich werde sie umbringen“, soll Alexander M. gedroht haben. Den JVA-Leiter beschimpfte er als „perverses Schwein“. „Sie werden sich wundern, was ich überall über sie erhalte.“ Als Polizisten später seine Wohnung durchsuchten, bezeichnete er diese als „Lügner“, in einem Schreiben an das Amtsgericht beklagte er sich, gegen ihn wären Verbrechen wie Nötigung oder Aussageerpressung begangen worden.

Auffällig ist, dass Alexander M. immer wieder wegen Bedrohungen verurteilt wurde und wiederholt Beschwerdeschreiben an Behörden verschickte. Früh wurde er auch wegen Amtsanmaßung verurteilt, weil er sich als Behördenvertreter ausgab. Und: Er hat technische Fähigkeiten, kennt sich mit dem Internet aus, ist gelernter Facharbeiter für elektronische Datenverarbeitung. Vor Gericht gab er an, er sei ein Einzelgänger, der den ganzen Tag vorm Rechner sitze und eine große Begeisterung fürs Internet habe.

Es sind diese Punkte, die auch zur „NSU 2.0“-Drohserie passen. Denn auch hier verschickte der Täter seine Schreiben mit brachialen Drohungen, anonym aus dem Darknet. Das erste ging am 2. August 2018 an Başay-Yıldız, die im NSU-Prozess Opferfamilien vertrat, in anderen Verfahren auch Islamisten. Das Schreiben erreichte sie als Fax, gesendet über einen Onlineanbieter. Als Absender angegeben: „Uwe Böhnhardt“, der tote NSU-Terrorist. Die Anwältin wird als „miese Türkensau“ beschimpft, genannt wird ihre öffentlich nicht bekannte Adresse und der Name ihrer Tochter, die man „als Vergeltung schlachten“ werde. Die Daten wurden kurz zuvor im Frankfurter Revier abgerufen

Die Vermutung der Ermittler: Alexander M. könnte schlicht über einen fingierten Anruf an die Informationen gekommen sein. Er könnte sich als Behördenvertreter ausgegeben und die Daten abgefragt haben – auch in anderen Fällen. Dann wäre nicht mehr die Rede von einem Netzwerk, sondern von einem Rechtsextremen, der Polizisten übertölpelte.

Tatsächlich gab es zwei solcher Anrufe auch mal bei der taz, im August 2018, zwei Wochen nach den ersten Drohfaxen an Başay-Yıldız. Der Mann ließ sich beim ersten Telefonat zum Geschäftsführer durchstellen und behauptete, er sei Polizist und brauche die Kontaktdaten von taz-AutorIn Hengameh Yaghoobifarah für eine Strafanzeige. Beim zweiten Mal erreichte er die stellvertretende Chefredakteurin. Beide aber rückten die Adressdaten nicht raus, baten vielmehr um die Kontaktdaten des Beamten – bis dieser das Gespräch mit der Drohung beendete: „Ihrer Kollegin blüht noch einiges.“ Von sich nannte der angebliche Polizist nur den Abschnitt, auf dem er arbeite: Berlin-Wedding. Der Stadtteil, in dem Alexander M. nun festgenommen wurde.

Idil Baydar, Kabarettistin

Waren die Polizisten im Frankfurter Revier weniger misstrauisch? Ließen sie sich austricksen? Das sei „Gegenstand der laufenden Ermittlungen“, sagt eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft der taz. Wäre es so, stellt sich indes die Frage, warum alle verdächtigten Beamten im Revier bestritten, die Datenabfrage gemacht zu haben – und sonst schwiegen. Hätten sie nicht einfach von dem Anrufer berichten können?

Und: Wie kam der Drohschreiber auch noch an die neue Adresse von Basay-Yildiz nach ihrem späterem Umzug, die streng geheim gehalten wurde? Auch diese soll einfach am Telefon weitergegeben worden sein – trotz des nun bundesweiten Wirbels um den Fall?

Auch wegen dieser Fragen reagierten die Bedrohten am Dienstag vorerst verhalten. „Ich glaube noch nicht an die Erzählung der armen, naiven Polizei“, sagt Idil Baydar der taz. „Da werden in verschiedenen Revieren unsere Daten einfach so rausgegeben, ohne dass das weiter festgehalten wird? Das sind mir ein bisschen zu viele Zufälle.“ Zudem sei über die Chatgruppen ja nachgewiesen, dass einige Beamte rechtsextrem tickten, so Baydar. Auch die Linken-Chefin Janine Wissler sagte der taz: „Wie soll dieser Mann aus Berlin ohne Bezug zur Polizei an sensible Daten gekommen sein?“ Ihre Parteikollegin Martina Renner, die ebenfalls „NSU 2.0“-Drohschreiben erhielt, erklärte: „Dass der mutmaßliche Täter alleine gehandelt hat, ist mehr als unglaubwürdig.“

Seda Başay-Yıldız hatte ihr letztes Drohschreiben am 19. Februar dieses Jahres erhalten, am Jahrestag des Hanau-Anschlags. Mehr als ein Dutzend Schreiben waren es insgesamt. Die Anwältin lobte zwischenzeitlich selbst eine Belohnung von 5.000 Euro für Hinweise auf den Täter aus. Und sie ließ, auf Anraten des LKA, ihr Haus absichern. Auf den Kosten blieb Başay-Yıldız bisher sitzen. Sie will diese nun vom Land Hessen einklagen.

Und sicher ist Başay-Yıldız auch nach der Festnahme von Alexander M. nicht. Schon im Sommer 2020 war ein Trittbrettfahrer in Bayern verhaftet worden, ein Ex-Polizist, der ebenfalls als „NSU 2.0“-Drohschreiben verschickt hatte. Zuletzt war die neue Adresse von Başay-Yıldız auch in einem rechten Forum im Darknet veröffentlicht worden, einsehbar für viele Nutzer. Der Hass, er könnte also weitergehen.