Theater in der Pandemie: Zeitreise am Schreibtisch

Wie begeistert man Menschen in den eigenen vier Wänden für Kunsterfahrungen? Das Projekt „1000 Scores“ setzt auf Mitmach-Theater und Selbstreflexion.

Screenshot von der Webseite 1000.scores

1000 Scores? bislang sind weniger online, aber es werden laufend mehr Foto: Screenshot taz/1000 scores.com

Alleine in meinem Zimmer vor meinem Computer zu sitzen ist etwas, das ich in dieser jetzt schon ein Jahr andauernden Coronapandemie in meiner Freizeit nicht mehr tun möchte. Im selben Raum, im selben Stuhl, in ähnlicher Pose, hocke ich stundenlang für die Arbeit. Habe ich wirklich früher um Homeoffice gebettelt? Wenn ich frei habe, möchte ich rausgehen, den hundertsten Spaziergang des Monats machen, Sport treiben, Freundinnen und Familie anrufen, Musik hören oder lesen. Alles am liebsten offline.

Aber natürlich fehlt mir das Theater. Und das hat gezwungenermaßen den Weg ins Digitale gesucht. Also klicke ich aus einem Pflichtgefühl heraus auf das Online-Theaterprojekt „1000 Scores – Pieces for Here, Now & Later“. Wieder Kunst online aus meinem Zimmer betrachten. Na gut.

Die Theaterschaffenden Helgard Haug, David Helbich und Cornelius Puschke haben aufgrund der limitierten Theatermöglichkeiten in der Pandemie Künstler*innen, Per­fo­me­r*in­nen und Mu­si­ke­r*in­nen aus aller Welt gebeten kurze Beiträge für ein Online-Publikum zu verfassen. Diese nennen sich „Scores“ und verbergen sich auf der Webseite www.1000scores.com hinter kleinen Fotokacheln, auf die die Be­su­che­r*in­nen interessengeleitet klicken können. Laufend kommen neue Scores von Künstlerinnen hinzu, bislang sind mehr als 70 Scores online. Hinter den Fotokacheln befinden sich Gedichte, Skizzen, Bilder und Texte. Und vor allem: Handlungsaufforderungen. Denn dieses Theatererlebnis ist mal wieder interaktiv.

Die erste Kachel, auf die ich klicke, fordert mich direkt zu etwas Wunderbarem auf: Mir einen heißen Kaffee zu kochen. „Coffee with Those You Can’t Meet Again“ von dem sudanesischen Künstler Husam Hilali überzeugt mich spätestens ab dem Satz „If you are not a coffee drinker please take the extra mile and try to drink it only for the purpose of this score.“ Viel zu oft wird man schließlich aufgefordert, weniger Kaffee zu trinken.

Kaffee alleine in Gesellschaft

Mit heißem Milchkaffee sitze ich also ein paar Minuten später wieder vor meinem Computer. Husam Hilali erzählt zunächst die Geschichte eines japanischen Cafés mit dem Namen Funiculi Funicula. Auf einem einzigen Stuhl in diesem Café, so schreibt er, konnte man in der Zeit zurückreisen, um einen Kaffee mit einer bereits verstorbenen Person zu trinken. Die Zeitreise endete, wenn der Kaffee leer ist. Ist der Kaffee jedoch kalt, bevor er zu Ende getrunken wurde, verwandele sich die Person in einen Geist.

Nach Tokio zu fliegen, ja, sogar ein Café – irgendein Café – zu besuchen, wäre in der aktuellen Zeit schwer zu realisieren. Doch eine Zeitreise ermöglicht mir Husum Hiali auch an meinem Schreibtisch. Ich werde gebeten, mir ein altes Fotobuch zu holen und mir die Bilder genau anzusehen. Welcher der fotografierten Personen ist bereits verstorben? Ich blättere durch alte Kinderbilder. Stolz präsentierte Zahnlücken von meinen Brüdern und mir, Urlaubsfotos, die sehnsüchtig nach Strand und Meer machen. Mich durchströmt eine große Dankbarkeit, dass ich erkennen darf, dass die Einzigen nicht mehr Lebenden auf den Bildern meine Oma ist und mein Hund.

Nach Anweisung von Hilali darf ich nun endlich an meinem Kaffee nippen. Ich schnappe mir mein Aufnahmegerät und soll mir vorstellen, dass ich meine Oma im Café Funiculi Funicula treffe. Ich lehne mich zurück und versuche mich zu erinnern: An den ersten Eindruck von ihr. Ob ich mal etwas Schlimmes zu ihr gesagt habe, welche unsere unangenehmste gemeinsame Situation war. Danach soll ich mich fragen, ob ich bereit bin zu vergeben. Ob ich letzte Worte habe, die ich an meine Oma richten würde. Und: wenn der Stuhl im Funiculi Funicula gerade frei wäre – würde ich ihn einnehmen? Hätte ich den Wunsch, diese Zeitreise zu machen?

Husum Hilali schafft es mit seinem Score, dass man das eigene Zimmer gedanklich verlässt. Die Zeit verfliegt, man versetzt sich in die alten Fotos hinein. Irgendwann ist der Kaffee leer, ich räuspere mich und speichere meine Sprachmemo. Neugierig klicke ich weitere Kacheln an. Mal soll ich Musik abspielen und tanzen, dann lese ich mir laut ein Gedicht von der deutsch-italienischen Schriftstellerin Maxi Obexer vor. Die Scores sind so vielfältig wie die Künst­le­r*in­nen die dahinterstecken. Will man mehr über die Menschen hinter den Scores erfahren, leitet die Webseite weiter auf deren Künst­le­r*in­nen­sei­ten – schon hat man noch mehr zu schauen und lesen.

Screenshot von der Webseite 1000.scores

Der „Chaos-Choir“ verbindet Menschen – selbst wenn es nicht super klingt Foto: Screenshot taz/1000 scores.com

Häufig fordern die Scores dazu auf, sich selbst zu reflektieren. Bewusst zu atmen, schauen oder hören oder sich selbst Fragen zu beantworten. Nicht alle Aufgabenstellungen finde ich interessant, nicht auf alle habe ich gerade Lust. Dann klicke ich einfach weiter.

Gleich mehrfach spiele ich das Video hinter der Kachel mit dem Titel „Chaos Choir“ ab. Künstlerin Asa Berenzy aus Kanada hat 13 Menschen gebeten, auf eine von ihrer vorgegebenen Melodie zu singen, wie sich gerade fühlen und daraus ein Chorstück gebastelt. Was die einzelnen Personen singen, versteht man nicht wirklich. Doch es tut seltsam gut – und ist witzig – andere Menschen in ihren Zimmern sitzen zu sehen und – mal inbrünstig, mal sanft – vor sich hinsingen zu hören.

Natürlich steht auch hinter diese Kachel wieder die Aufforderung, selbst mitzusingen. Ja, wie fühle ich mich denn gerade? Sicher immer noch pandemiemüde. Aber die „1000 Scores“ haben mich heute erfolgreich abgelenkt. Trotz eingehaltener Distanz war an dieser Theatererfahrung nichts distanziert. Noch habe ich lange nicht alle Kacheln entdeckt. Aber dafür gibt es ja Online-Lesezeichen.

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