Ausgangssperren weiter umstritten

Mit den Stimmen von Union und SPD hat der Bundestag die Bundesnotbremse beschlossen. Die Opposition kritisiert die Ausgangsbeschränkungen

Eine Ausnahme gibt es bis Mitternacht lediglich für Spa­zier­gän­ge­r:in­nen oder Jog­ge­r:in­nen

Von Pascal Beucker
und Erik Peter

Trotz heftiger Einwände der Opposition hat der Bundestag am Mittwoch mit den Stimmen der Großen Koalition die sogenannte Bundesnotbremse in der zweiten und dritten Lesung beschlossen. Vorbehaltlich der Zustimmung durch den Bundesrat gilt damit nun ein verbindlicher bundeseinheitlicher Maßnahmenkatalog zur Bekämpfung der Coronapandemie.

„Wir können das Virus nicht wegtesten, wir können auch gegen eine Welle nicht animpfen“, begründete Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) die von Union und SPD in namentlicher Abstimmung durchgesetzten Änderungen des Infektionsschutzgesetzes. Um die dritte Coronawelle zu brechen, gebe es nur ein „ebenso banales wie wirksames Mittel“: das Reduzieren von Kontakten.

Das heißt konkret: Wenn in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt die Sieben-Tage-Inzidenz der gemeldeten Neuinfektionen pro 100.000 Ein­woh­ne­r:in­nen an drei Tagen hintereinander über 100 liegt, gilt dort unter anderem zwischen 22 und 5 Uhr eine nächtliche Ausgangsbeschränkung. Eine Ausnahme gibt es bis Mitternacht für Spa­zier­gän­ge­r:in­nen oder Jog­ge­r:in­nen – wenn sie alleine unterwegs sind. Ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von 165 gibt es ein Verbot des Präsenzunterrichts in den Schulen. Auch strengere Bestimmungen für Geschäfte sind vorgesehen.

„Die Lage ist unverändert ernst“, sagte Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD). Gefordert sei „Klarheit und Konsequenz“. Deswegen seien nun Regeln notwendig, die „überall in Deutschland und immer und in jedem Fall“ gelten.

Die Opposition hegt jedoch Zweifel an der Tauglichkeit der Maßnahmen. Es handele sich um eine „halbherzige Notbremse“, die erst greife, „wenn der Zug schon gegen die Wand fährt“, kritisierte Grünen-Bundestagsabgeordnete Kirsten Kappert-Gonther. Die FDP-Abgeordnete Christine Aschenberg-Dugnus bescheinigte der Regierungskoalition: „Ihr Gesetzentwurf hat erhebliche handwerkliche Mängel.“ Die Bundesregierung taumele „von einem Murks zum nächsten“, sagte Linksfraktionschefin Amira Mohamed Ali.

Entschieden lehnten sowohl Linkspartei, FDP als auch Grüne die nächtlichen Ausgangsbeschränkungen ab. Tatsächlich sind sie die Achillesferse des geänderten Gesetzes. Denn nicht nur bei der Opposition ist ihre Wirksamkeit zur Eindämmung der Pandemie ebenso umstritten wie die Frage, ob sie verfassungskonform sind. Das zeigen zwei Ausarbeitungen des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags, die der taz vorliegen.

In dem ersten Papier sichtet der Bundestagsdienst die – bislang dünne – wissenschaftliche Studienlage zur Wirkung von Ausgangsbeschränkungen. Das Fazit fällt ernüchternd aus: Der Effekt sei „im Vergleich zu anderen Maßnahmen gering“. Im zweiten Papier geht es um die verfassungsrechtliche Bewertung. „Die Ausgangsbeschränkung in der Nacht ist kritisch zu bewerten“, schreibt der Wissenschaftliche Dienst. „Ob sie einer abschließenden verfassungsgerichtlichen Prüfung standhielte, dürfte zweifelhaft sein.“ „Maßnahmen gegen die Pandemie sind unverzichtbar, und in gewissem Umfang muss man dafür auch Grundrechtseinschränkungen hin­nehmen – aber bei nächtlichen Ausgangssperren ist die Verhältnismäßigkeit nicht gegeben“, sagte die innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion, Ulla Jelpke, der taz.

Zu Beginn der Bundestagsdebatte hatte die AfD, deren Abgeordnete demonstrativ keine Masken im Plenum trugen, vergeblich die Absetzung des Tagesordnungspunkts beantragt. Als einen „Tabubruch“ bezeichnete der AfD-Fraktionschef Alexander Gauland die Gesetzesänderung. Ausdrücklich ergriff er Partei für für die Anti-Coronamaßnahmen-Protestler:innen, die am Mittwoch in Berlin demonstrierten: „Sie können nicht das halbe Volk zu Querulanten machen“, warf er den anderen Fraktionen vor.

Ab morgens 9 Uhr hatten sich mehrere Tausend De­mons­tran­t:in­nen auf der Straße des 17. Juni versammelt. Alle Wege ins Regierungsviertel waren von der Polizei, die ein Großaufgebot von mehr als 2.000 Be­am­t:in­nen und Wasserwerfern aufbot, hermetisch abgeriegelt worden.

Auf die massenhafte Verletzung der Hygienebestimmungen durch die etwa 8.000 Teil­neh­me­r:in­nen reagierte die Polizei mit der Auflösung der Versammlung am Mittag. Infolgedessen zog ein großer Teil in Richtung der Absperrungen vor dem Brandenburger Tor. Zwischen Hippies und Ver­schwö­rungs­ideo­lo­g:in­nen sammelten sich immer mehr erkennbare Neonazis und Hooligans. Viele von ihnen setzten sich gegen Festnahmeversuche zur Wehr. Flaschen flogen, Po­li­zis­t:in­nen wurden körperlich angegangen.

Es sei „nicht nur unanständig, sondern es ist unwürdig gegenüber den Betroffenen und gegenüber den Familienangehörigen, dass Sie davon faseln, dass die Pandemie herbeigetestet wurde“, hielt SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich der AfD im Bundestag entgegen. Der parlamentarische Geschäftsführer der Linksfraktion, Jan Korte, sprach von „braunem Klamauk“.

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