Geheimhaltung als Staatsräson

Die hessischen Grünen weigern sich, die NSU-Akten offenzulegen. Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock ist über die Entscheidung nicht glücklich. Wie glaubwürdig sind die Grünen im Kampf gegen rechts?

Protest vor der hessischen Landes­vertretung in Berlin 2015 Foto: Christian Mang

Aus Frankfurt am Main und Berlin Christoph Schmidt-Lunau
und Ulrich Schulte

Entscheidungen des Petitionsausschusses, zumal in einem Landesparlament, haben selten Nachrichtenwert. Dort landen Eingaben von BürgerInnen, die eine Idee haben, einen Verbesserungsvorschlag für ein Gesetz oder ein Problem mit einer Behörde. Oft sind es Kleinigkeiten. Doch das, was der Petitionsausschuss des hessischen Landtags vorbereitete – und was das Parlament am Mittwochabend bestätigte, besitzt eine Brisanz, die bisher unter dem Radar der Öffentlichkeit blieb.

Die schwarz-grüne Koalition in Hessen weigert sich, geheim gehaltene Akten zu der Mordserie des rechtsterroristischen Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) offenzulegen. Mehr als 134.000 Menschen hatten eine Petition unterschrieben, in der die Veröffentlichung gefordert wird. Zu den UnterzeichnerInnen gehören auch Angehörige des im Jahr 2006 in Kassel vom NSU ermordeten Halit Yozgat. In einer emotionalen Landtagsdebatte blieb die schwarz-grüne Koalition bei ihrer Haltung, die sie zuvor im Petitionsausschuss festgelegt hatte: Die Petition wird an die Landesregierung überwiesen – „zur weiteren Bearbeitung“.

Was dabei herauskommen wird, erklärte CDU-Innenminister Peter Beuth in der Debatte sehr offen: Eine Veröffentlichung der NSU-Akten könne es aus rechtlichen Gründen nicht geben. Sicherheitsbehörden könnten ihre Arbeitsweise nicht für jeden offenlegen, argumentierte Beuth. „Ansonsten könnten die Verfassungsfeinde selbst diese Informationen nutzen, um unsere gemeinsamen Werte zu bekämpfen oder Menschen gezielt zu gefährden.“

Die Grünen, die seit 2014 mit der CDU regieren, sehen das auch so. Den Wunsch der PetentInnen könne er zwar nachvollziehen, sagte Fraktionschef Mathias Wagner. Eine Veröffentlichung drohe aber die Arbeit des Verfassungsschutzes zu erschweren oder gar zu behindern.

Schon vergangene Woche argumentierte Wagner nach dem Votum des Petitionsausschusses, eine Veröffentlichung könne „Leib und Leben“ von InformantInnen über die rechte Szene gefährden.

Das ist allerdings ein brüchiges Argument: Entsprechende Stellen, die für InformantInnen heikel sind, könnten ja geschwärzt werden, argumentierte die Opposition. Wie auch immer, die hessischen Akten zum NSU bleiben also erst mal unter Verschluss. Seine Mitglieder Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe ermordeten in den Jahren 2000 bis 2007 9 Migranten und eine Polizistin, sie verübten 43 Mordversuche und 3 Sprengstoffanschläge.

Und die hessischen Akten, die wohl auch das Versagen deutscher Behörden dokumentieren, werden der Öffentlichkeit vorenthalten?

Besonders die Grünen geraten durch diese Strategie in einen heiklen Selbstwiderspruch. Sie gerieren sich gerne als aufrechte KämpferInnen gegen Rechtsextremismus, als Gegenpol zur AfD und als Partei der Bürgerrechte. In ihrem Programm treten sie für Transparenz ein und strenge Kontrolle der Nachrichtendienste. All das wird durch das hessische Vorgehen konterkariert, es könnte die Glaubwürdigkeit der Partei über Hessen hinaus beschädigen.

SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil sprach von einer „Bankrotterklärung der Grünen im Kampf gegen Rassismus und Rechtsextremismus.“

NSU-Akten in Hessen Die schwarz-grüne Koalition in Hessen weigert sich, Akten zum Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) freizugeben. Im Kern geht es um zwei Dossiers des Landesverfassungsschutzes von 2013 und 2014. Sie prüfen NSU-Bezüge nach Hessen. Heikel ist die Sache auch deshalb, weil in Hessen nicht nur der Mord an Halit Yozgat stattfand, sondern auch noch der Verfassungsschützer Andreas Temme am Tatort war.

Petition Mehr als134.000 Menschen haben eine Petition unterschrieben, in der eine Veröffentlichung der NSU-Akten gefordert wird. Vor allem die Grünen stehen wegen ihrer ablehnenden Haltung in der Kritik. Die Bundesspitze ist nicht glücklich mit der Entscheidung in Wiesbaden. (us)

Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock ging in der turnusmäßigen Pressekonferenz am Montag vorsichtig auf Distanz zu den Hessen – vermied aber ausführliche Einlassungen. „Wir hätten uns auch einen anderen Weg vorstellen können.“ Mehrere Nachfragen der taz zu der Causa am Donnerstag ließ der Bundesvorstand lieber unbeantwortet.

Baerbock und ihr Co-Chef Robert Habeck wandten sich allerdings am 11. Mai in einem Brief an die PetentInnen. In dem Schreiben, das der taz vorliegt, vermeiden sie Kritik an den hessischen Parteifreunden – und verweisen auf den Entwurf für das Bundestagswahlprogramm: Darin fände sich die Forderung nach der Einrichtung einer Behörde, „in der die Aufarbeitung des NSU-Komplexes durch die bislang 13 parlamentarischen Untersuchungsausschüsse auf Bundes- und Landesebene ausgewertet und Dokumente langfristig für Wissenschaftler*innen, Jour­na­lis­t*in­nen und die Zivilgesellschaft zugänglich gemacht werden.“

Kurz: Kein Kommentar zu Hessen, aber mehr Transparenz irgendwann, vielleicht. Konstantin von Notz, Innenpolitiker und stellvertretender Fraktionsvorsitzender im Bundestag, wird deutlicher. „Es muss maximale Transparenz hergestellt werden“, sagte er der taz. „Jeder Stein sollte umgedreht werden, auch in der parlamentarischen Aufklärung.“ Das werde seine Partei im Wahlprogramm und im Wahlkampf sehr deutlich machen. Während in Hessen die Geheimhaltung mit dem Interesse des Staates begründet wird, sieht von Notz die Sache anders herum. „Bei einem so gravierenden Fall wie dem NSU-Komplex muss man sich fragen, ob dem Staatswohl mit Transparenz nicht mehr gedient wäre als mit Intransparenz.“

Von Notz hat noch einen anderen Punkt. „Der Rechtsstaat geht mit Hinterbliebenen oft bürokratisch und kalt um.“ Das beobachte er schon länger. Was etwa die Familien der Opfer des Terroranschlags vom Breitscheidplatz mit deutschen Behörden erlebten, sei „verstörend und krass“. Für ihn ist klar: „Wir brauchen einen empathischeren Rechtsstaat.“

Kanzlerin Angela Merkel hatte in ihrer Gedenkrede für die NSU-Opfer 2012 persönlich Aufklärung versprochen und sich bei Angehörigen der Opfer entschuldigt: Die Polizei hatte jahrelang im Dunkeln getappt und sogar Angehörige der Opfer verdächtigt. Medien hatten von „Dönermorden“ berichtet.

Angesichts dessen könnte die hessische Entscheidung eine verheerende Wirkung in der migrantischen Community und bei den Opferfamilien entfalten. Erste Hinweise gibt es bereits. Die Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız, die im NSU-Prozess Angehörige vertrat, twitterte am Donnerstagmorgen: „Ich habe die Diskussion im Landtag verfolgt und es bitter bereut, dass ich Euch, Grüne Hessen, mal Vertrauen geschenkt habe.“ Außerdem bedankte sie sich bei PolitikerInnen von SPD und Linkspartei, die die Offenlegung forderten.

Ein entscheidender Grund für das Vorgehen der hessischen Grünen ist die Koalitionsräson. Die CDU ist strikt gegen die Offenlegung, Regierungschef Volker Bouffier war in der Zeit der NSU-Mordserie Innenminister – also federführend zuständig. CDU und Grüne setzen in Hessen auf demonstrative Geschlossenheit: Die führenden Köpfe sprechen sich eng und regelmäßig ab, Konflikte werden intern geklärt und nicht nach außen getragen. Bouffier und der wichtigste Grüne, Vizeministerpräsident Tarek Al-Wazir, duzen sich. Auch gilt eine strikte Arbeitsteilung, der eine mischt sich in die Bereiche des anderen nicht ein. Als Juniorpartner lassen die Grünen CDU-Innenminister Peter Beuth unbehelligt seine Kreise ziehen. Die Grünen-Fraktion feierte den Minister für seine vermeintlich großartige Bilanz in der Kriminalitätsentwicklung in Hessen, ein halbes Jahr nach dem Mord an Walter Lübcke und wenige Tage vor den rassistisch motivierten Morden in Hanau.

Kein Kommentar der Bundesgrünen. Aber mehr Transparenz irgendwann, vielleicht

Ähnlich sieht es in der Flüchtlingspolitik aus: Auch aus Hessen werden Flüchtlinge nach Afghanistan und Syrien abgeschoben. Gut integrierte Menschen, die seit Jahren für ihren Unterhalt aufkommen oder in Ausbildung sind, kurz bevor ihnen ein dauerhaftes Bleiberecht zugestanden hätte, müssen unter anderem ausreisen.

Es blieb allein den Oppositionsparteien vorbehalten, die schleppenden Ermittlungen im Zusammenhang mit den Drohmails unter dem Kürzel „NSU 2.0“ zu kritisieren. Und dass erst jetzt, nach zwei Jahren, unberechtigte Datenabfragen von Polizeicomputern effektiv abgestellt werden sollen, gilt den Grünen als Erfolg und nicht als Versäumnis. Die Grünen lassen den Innenminister auch gewähren, wenn er die Präsidentin des Landeskriminalamts für die Zukunft zu einer politischen Beamtin machen will und damit unter Kuratel stellt, ebenso die künftigen PräsidentInnen der Polizeihochschulen.

Bei der Aufklärung des NSU-Terrors kam es schon früher zu politischen Blamagen: Erst sollten die NSU-Akten 120 Jahre lang unter Verschluss bleiben, nach Kritik reduzierte die Koalition die Zeitspanne auf 30 Jahre. Die Grünen enthielten sich 2014, als das Parlament einen NSU-Untersuchungsausschuss einsetzte. Fraktionschef Wagner sprach sechs Jahre später von einem „Fehler, aus dem wir gelernt haben“.

Teile der Basis ärgerten sich über das defensive Vorgehen in der Sache. Der innenpolitische Sprecher der Fraktion, Jürgen Frömmrich, wurde bei der KandidatInnenaufstellung für die Landtagswahl 2018 abgestraft und auf der Liste nach hinten durchgereicht. Doch dank des sensationell guten Wahlergebnisses zog er in den neuen Landtag ein und rückte zum Fraktionsgeschäftsführer auf.