Ukrainischer Film „Atlantis“: Die Zukunft wird sein wie Matsch

„Atlantis“ ist ein lakonischer Science-Fiction-Film aus der Ukraine. Regisseur Walentyn Wassjanowytsch sucht nach Hoffnung im zerstörten Donbass.

Eine teilmumifizierte Leiche wird in einem schmuddeligen OP-Saal beschaut.

Sergiy (Andrii Rymaruk, links) assistiert bei einer Leichenschau an einem Kriegsopfer Foto: Mubi

Braun. Die dominierende Farbe in diesem Film ist Braun. Die Landschaften, durch die sich die Kamera bewegt, sind schlammige Wüsteneien, in denen man am Horizont selten eine Pflanze erblickt. Dafür Industrieruinen, Minenfelder, von Menschen weitgehend sich selbst überlassene Ödnis. Am nächtlichen Himmel ein rötliches Braun, zusammengequirlt aus Wolken und Qualm von Fabrikschloten. Man schreibt das Jahr 2025, „Atlantis“ ist mithin ein Science-Fiction-Film. Alles darin sieht mehr nach heute aus und trotzdem fremd.

Was in dieser Geschichte des ukrainischen Regisseurs Walentyn Wassjanowytsch am ehesten an Zukunft denken lässt, ist der Hinweis am Anfang des Films, direkt nachdem die Zeit der Handlung genannt wurde: „Ein Jahr nach dem Krieg“.

Im Donbass, wo „Atlantis“ spielt, ist bisher nicht abzusehen, ob der 2014 dort ausgebrochene Krieg zwischen ukrainischem Militär und prorussischen Separatisten nach einem Jahrzehnt wirklich beendet sein wird. Die jüngsten russischen Truppenbewegungen an der Grenze zur Ukraine hatten befürchten lassen, Russland könnte eine Offensive im umkämpften Gebiet vorbereiten.

In „Atlantis“ herrscht Frieden, doch die Gegend kommt nicht zur Ruhe. Im Boden des Kohlebaugebiets ist durch aufgelassene Gruben und die Hinterlassenschaften von Fabriken das Grundwasser so salzig, dass die dort noch lebenden Menschen ihr Wasser von Lastern geliefert bekommen müssen. Einer dieser Lieferanten ist Sergiy (Andrii Rymaruk). Er ist in der Region geblieben, obwohl sie längst als auf lange Sicht unbewohnbar gilt.

„Atlantis“. Regie: Walentyn Wassjanowytsch. Mit Andrii Rymaruk, Ljudmila Bileka u. a. Ukraine 2019, 104 Min. Läuft auf Mubi.

Sergiy hat zuvor in einem Stahlwerk gearbeitet. Bis das englische Management in einer Ansprache vor versammelter Belegschaft verkündet, die Fabrik werde „wegen Umbaumaßnahmen“ geschlossen. Früher hatte Sergiy zudem im Krieg gekämpft. Mit einem Kollegen aus der Fabrik, der mit ihm auf Seite der ukrainischen Armee im Einsatz war, macht er zu Beginn des Films Schießübungen. Man weiß ja nie. Traumatisiert sind beide.

Leichenschau an teilmumifiziertem Kriegsopfer

Sergiy ist ein verschlossener Typ, wie die meisten Figuren im Film. Seine stundenlangen einsamen Fahrten mit dem Lkw absolviert er stoisch. Als er auf einer Tour an einem liegengebliebenen Transporter einer Hilfsorganisation vorbeikommt, schleppt er das Fahrzeug ohne viele Worte ab. So trifft er Katja (Ljudmila Bileka), die ehrenamtlich hilft, die sterblichen Überreste verscharrter Kriegsopfer in der Region aufzuspüren und ordentlich zu bestatten. Sergiy bietet an, in seiner freien Zeit mitzumachen.

Wassjanowytsch zeigt vor allem die bürokratische Seite dieser Arbeit. Auf einer Fahrt zum Friedhof, wo die Organisation Särge von unidentifizierten Leichen abliefert, nimmt das Unterschreiben von Formularen die längste Zeit des Vorgangs ein. In einer anderen Szene ist minutenlang ein Arzt zu sehen, der eine Leichenschau an einem teilmumifizierten Kriegsopfer vornimmt und mit monotoner Stimme die äußerlichen Merkmale zu Protokoll gibt. Es ist einer der Momente, in denen am meisten gesprochen wird.

Überhaupt macht in „Atlantis“ allein die Tongestaltung die Musik. Maschinen wie die Lkw-Motoren oder der Hochofen des Stahlwerks sorgen für einen brummenden Drone. Wenn geschossen wird, was selten geschieht, knallt es trocken. Dazwischen wird gesprochen, auch das eher wenig, selten ­heben die Menschen ihre Stimme. Die giftige Leere, die in den Bildern ausgestellt ist, braucht keine suggestiven atmosphärischen Zugaben.

Bleiben, trotz allem, als Perspektive

Diese Stille ist es auch, die Sergiy gegen alle Umwelt­widerstände in der Ostukraine weiterleben lässt. Und bei aller Tristesse signalisiert Wassjanowytsch damit zugleich so etwas wie Optimismus. Eine der letzten Szenen, in der eine Wärmekamera zum Einsatz kommt, bietet einen Blick auf Katja und Sergiy im Dunkeln. Sie sind sich inzwischen nähergekommen, sprechen darüber, warum sie bleiben wollen. Das Bleiben selbst ist, wie es scheint, ihre Perspektive.

Im Jahr 2019 lief „Atlantis“ auf den Filmfestspielen von Venedig in der Reihe „Orizzonti“, wo er den Preis als bester Film gewann. Er war auch für die Oscarverleihung im April als bester internationaler Film nominiert. Jetzt ist „Atlantis“ online beim Streamingdienst Mubi angelaufen.

Die strenge Kargheit seiner Bilder nicht im Kino sehen zu können, ist ein Verlust. Ihn überhaupt sehen zu können, in jedem Fall ein Gewinn: Science-Fiction, die ohne Spezialeffekte auskommt und dennoch Möglichkeiten der Zukunft erkundet. Und ein Kriegsfilm, der den Blick rein auf die Folgen militärischer Gewalt lenkt. Hoffnung ohne Kitsch.

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