Prekäre Situation der Krankenpflege: Jenseits der Belastungsgrenze

Seit über einem Jahr arbeiten Pflegekräfte am Limit – und darüber hinaus. Ex­per­t*in­nen warnen vor Massenabwanderungen aus der Pflege.

Schwestern, PflegerInnen und Äzrtinnen in einem Besprechungszimmer im Krankenhaus

Besprechung auf der Covid-19- Station am Universitätsklinikum Leipzig Foto: Waltraud Grubitzsch/dpa

BERLIN taz | Applaudiert wird für sie schon lange nicht mehr. Und auch der Bundesgesundheitsminister interessierte sich in der vergangenen Woche offenbar mehr für Schauspieler*innen, die in zynischen Videos über Coronamaßnahmen jammern, als für die Pflegekräfte, die sich Tag für Tag um diejenigen kümmern, die die Politik nicht zu schützen vermochte. Seit über einem Jahr arbeiten die Pfle­ge­r*in­nen in den Kliniken an der Belastungsgrenze.

„Es ist schwer“, sagt Helga Frerichs*, leitende Krankenpflegerin in Berlin. „Die meisten Mitarbeiter sind erschöpft. Es ist ja auch kein Ende absehbar.“ Frerichs leitet eine Covid-19-Station in einer mittelgroßen Berliner Klinik. In ihrem Team haben im Laufe des vergangenen Jahres fünf Mit­ar­bei­te­r*in­nen gekündigt, erzählt Frerichs, die Stellen seien nicht nachbesetzt worden. „Das ist schon heftig, das ist fast ein Drittel des Teams.“

Künftig könnte es in vielen Pflegeteams so aussehen. Darauf deutet eine aktuelle Umfrage der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin (DGIIN) hin. Befragt wurden Beschäftigte der Intensivstationen, Notaufnahmen und Rettungsdienste. Knapp ein Drittel der Pfle­ge­r*in­nen und Sa­ni­tä­te­r*in­nen erklärten, ihren Beruf in den nächsten zwölf Monaten aufgeben zu wollen.

Die Entwicklung ist nicht neu, doch Corona hat die Situation nochmal verschärft. „Gefühlt würde ich gerade behaupten, dass sogar mehr als jeder Dritte aus dem Job raus will“, erzählt Kerstin U., die in Hessen als Intensivpflegerin arbeitet, mittlerweile als Leiharbeitskraft. „Mal ganz abgesehen davon, dass es viel zu wenig Personal gibt, ist die Bezahlung eine Schande und die Dienstzeiten nicht attraktiv. Es wird angenommen, dass man immer bereit ist, einzuspringen.“

In der Pandemie ist die Arbeitsbelastung weiter gestiegen. Die Pflege der Covid-Patient*innen ist aufwendig, das fängt schon damit an, dass jedes Mal die volle Schutzmontur angelegt werden muss, bevor das Krankenzimmer betreten wird. Zeit für Zwischenmenschliches, für Gespräche mit den Kranken, ist selten. „Oft schafft man es nur, dass die Patienten am Leben bleiben“, sagt Kerstin U.

Immer unter Zeitdruck

Helga Frerichs berichtet ähnliches aus ihrer Klinik. „Man hat einfach keine Zeit, sich angemessen um die Patienten zu kümmern. Teilweise konnte man nicht mal oft genug reingehen, um ihnen genug zu trinken zu geben. Und das ist nicht, wie meine Kollegen und ich Pflege verstehen. Man hat den Beruf ja gewählt, weil man Menschen helfen will.“

Der Pflegeberuf war schon immer herausfordernd, doch was Pfle­ge­r*in­nen in der Pandemie erleben, das hat ein anderes Ausmaß. „In der zweiten Welle war es wirklich so, dass jeden Tag ein Patient gestorben ist“, erzählt Helga Frerichs. Belastend ist auch der Umgang mit den Verstorbenen: Sie müssen von den Pflegenden in Plastiksäcke verpackt werden, weil sie auch nach dem Tod noch infektiös sind. „Das ist ein Riesenunterschied, ob ich einem Verstorbenen würdevoll ein sauberes Laken über das Gesicht lege, oder ob ich ihn in einen schweren, dicken Plastiksack verpacke.“

Auch Kerstin U. sagt: „Ich habe Kollegen, die sich nicht erinnern können, wann sie das letzte Mal einen Dienst hatten, in dem sie keine Leiche in die Kühlkammer gebracht haben. Das zerrt an den Nerven. Und das heißt aber gleichzeitig, dass, sobald das Zimmer geputzt ist, der nächste Patient da ist.“

Knapp ein Drittel der Pfle­ge­r*in­nen und Sa­ni­tä­te­r*in­nen planen ihren Beruf in den nächsten 12 Monaten aufgeben zu wollen

Psychologische Unterstützung gibt es oft keine: Beratungsangebote seien kein Standard in Kliniken, berichtet Carsten Hermes, Intensivpfleger und Vorstandsmitglied der DGIIN. Lokal gebe es zwar immer wieder Initiativen. Ob die auch genutzt werden, ist aber eine andere Frage. „Man redet auch nicht so viel darüber, wie belastet man eigentlich ist“, sagt Helga Frerichs.

Und doch ist die Belastung in Gesprächen spürbar – und sie hat Folgen. Frerichs erzählt, sie sei selbst länger krank geschrieben gewesen, weil sie „völlig erschöpft“ gewesen sei. Und sie wisse, dass viele Mit­ar­bei­te­r*in­nen aus ähnlichen Gründen ausgefallen seien, auch wenn diese nicht offen darüber sprechen.

„Ich glaube, dass wir in den kommenden Jahren vermehrt mit psychischen Erkrankungen zu tun haben werden,“ sagt Carsten Hermes, „und in jedem Fall werden Menschen zu Schaden kommen, Betroffene, Patienten und auch die gesamte Bevölkerung.“ Denn wenn in der Folge mehr und mehr Pflegekräfte aussteigen, gingen damit Jahrzehnte an Erfahrung verloren. Das könne man nicht einfach so ersetzen.

Nachfuchs fehlt

Zudem fehlt es bereits jetzt an Nachwuchs. Ausbildungen würden zu oft abgebrochen, berichtet Ingo Böing, Intensivpfleger und Referent für Pflege im Krankenhaus beim Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe. Gleichzeitig werde in den kommenden zehn Jahren eine große Zahl von Pflegenden in den Ruhestand gehen.

Umso wichtiger ist es, eine Kündigungswelle nach Corona zu verhindern. Und das geht nur durch bessere Arbeitsbedingungen. „Das heißt: Ich kann meine Arbeit so durchführen, wie es fachlich angezeigt ist, und ohne auszubrennen“, sagt Böing. Dazu gehört vor allem ein verlässlicher Dienstplan, ein planbares Privatleben. „Eigentlich Selbstverständlichkeiten“, findet Carsten Hermes. Neben einer gerechten Bezahlung und einer guten beruflichen Entwicklungsperspektive sei daher die Verbesserung der Personalsituation entscheidend.

Das Bundesgesundheitsministerium teilt derweil mit, die Regierung arbeite „intensiv an Verbesserungen für die Situation der Pflegekräfte im Krankenhaus“. Doch Helga Frerichs macht sich wenig Hoffnung auf rasche Besserungen. „Ich sage es ganz ehrlich, wenn ich was finden würde, außerhalb der Pflege, ich würde sofort wechseln.“ Und auch Kerstin U. hadert inzwischen mit ihrem Beruf: „Ich denke ständig darüber nach auszusteigen, weil ich das, was ich den Patienten teilweise antun muss, nicht mit meinem Gewissen vereinbaren kann.“

*Name von der Redaktion geändert.

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