Debüt-Comic von Lina Ehrentraut: Die zwei Körper der Erzählerin

In ihrem Comic „Melek + ich“ erzählt Lina Ehrentraut eine queere Liebesgeschichte. Dabei mischt sie einen grafischen und einen sehr expressiven Stil.

Eine Frau mit Zopf geht durch eine Landschaft von Farbwirbeln

Wenn es emotional wird, wechselt Lina Ehrentraut zu Farben Foto: Lina Ehrentraut, „Melek + ich“, Edition Moderne

„Was für Musik hörst du?“, fragt Nici über einen Bartresen hinweg Melek. „Oh krass, das ist die beschissenste Frage ever“, denkt Melek. Trotzdem vertiefen die beiden jungen Frauen ihr Gespräch und verstehen sich auf Anhieb ziemlich gut. Kein Wunder, denn Nici ist Melek oder zumindest ist Melek ein Teil von Nici.

In ihrem Comicdebüt „Melek + ich“ bewegt sich Lina Ehrentraut zwischen Sci-Fi und Arthouse und erzählt eine Liebesgeschichte der etwas anderen Art. Nici ist Forscherin und reist mithilfe eines selbsterbauten künstlichen Körpers – des Melek – in ein Paralleluniversum, in dem sie sich selbst begegnet. „Ich wollte in Form von Dialog und Beziehung unterschiedliche Gedanken und Konflikte mit mir selbst zeigen“, erzählt die Autorin im taz-Interview.

Während Melek eine perfekt selbst­optimierte Version Nicis ist, ist Letztere chaotisch, exzessiv und nicht besonders entscheidungsfreudig. Dafür weiß Nici das Leben zu genießen, mit allem, was dazugehört: Trinken, Rauchen, Essen, am See herumlungern, Filme schauen und Sex haben. „Nici und Melek verkörpern die beiden Gegensätze, die ich in mir spüre“, sagt Ehrentraut. 1993 in Neuss geboren, hat sie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig studiert.

Lina Ehrentraut: „Melek + ich“. Edition Moderne, Zürich 2021, 240 S., 25 Euro

Dort habe sie vor Corona auch in diversen Bars gejobbt, ebenso wie ihre Figur Nici es tut. „Wie Nici liebe ich Karaoke und Sex, rauche und trinke gerne“, sobald sie aber an einem Projekt säße, erzählt Ehrentraut, sei sie zielstrebig, vollends vertieft und kaum mehr ansprechbar. „Ich habe das Gefühl, dass diese zweite Version meiner selbst gesellschaftlich viel besser ankommt“, sagt sie. Für sie ein gefährlicher Gedanke, da sie diese exzessive Fokussierung auf Dauer nicht glücklich mache, sondern eher zerstörerisch und ungesund wirke.

Selbstoptimierung in einer digitalisierten Welt

In „Melek + ich“ spielt Ehrentraut deshalb auch auf die in den vergangenen Jahren in sozialen Medien so präsent gewordene Selbstoptimierung an. Fragen wie „Wie können wir uns selbst lieben in einer digitalisierten Welt, in der uns die Selbstoptimierung anderer stets unsere eigenen vermeintlichen Mängel vor Augen führt?“ spielen eine zentrale Rolle. „Mag ich mich? Warum vielleicht auch nicht? Wie fühle ich mich an?“, anhand dieser Fragen nähert Ehrentraut sich selbst und schenkt uns eine Liebesgeschichte, abseits von heteronormativen Vorstellungen.

Ein Panel in Schwarzweiß, Bilder und Texttafeln wechseln ab

Die Beziehung zu sich selbst wird am künstlichen Körper geklärt Foto: Lina Ehrentraut, „Melek + ich“, Edition Moderne

Melek und Nici lieben sich, streicheln einander Brust und Schamlippen und suchen mit ihrer Zunge die der anderen. All das stellt Ehrentraut explizit dar: Mit klarem Schwarzweißstrich enttabuisiert sie so die Darstellung weiblicher Körper und zeigt sie, wie sie sind – mit Nippeln und dichtem Schamhaar.

Auch in der Comicbranche fehle es, so Ehrentraut, noch an Diversität. Sex aus einer FLINTA*-Perspektive komme viel zu selten vor. „Besonders als Teenie hätte ich mir diversere Darstellungen von Sexualität gewünscht.“

Überall dort, wo Emotionalität und Genuss exzessiv werden, wechselt Ehrentrauts Stil, weg von den Comic-Strips in Schwarzweiß, hin zu ganzseitigen expressiven Malereien in knallbunten Farben. Das lockert nicht nur optisch auf, sondern lässt auch Raum, die nicht ganz pointierten Dialoge auf sich wirken zu lassen.

Wilder Farb- und Mustermix

In den Farbsequenzen kommt außerdem die gegensätzliche Kleidung der Figuren besser zur Geltung. Während Melek nur Schwarz trägt, zeigt sich der wilde Farb- und Mustermix von Nicis Kleidung erst, wenn Ehrentraut vom Fineliner zum Pinsel wechselt. Dabei ist die Kleidung Teil dessen, worauf Ehrentrauts Arbeit basiert. „Ursprünglich entstand die Geschichte zum Comic über Klamotten, die ich designt habe.“ Kleidung sei ja auch identitätsstiftend, sagt Ehrentraut. Durch die unterschiedlichen Stile sei sie auf die Idee der zwei Versionen ihrer selbst gekommen.

Diese beiden Identitätsfacetten, mit denen Ehrentraut spielt, machen „Melek + ich“ zu einer wunderbar interessanten Geschichte, bei der mensch sich zwangsläufig selbst hinterfragt. Ehrentrauts Botschaft könnte also sein, dass mensch nicht der*­die eine sein muss, sich stattdessen mit seinen unterschiedlichen Persönlichkeiten anfreunden, sie sogar lieben lernen kann. In einer Welt, die so ambivalent wie die unsere ist, eine tröstliche Idee.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.