Menschenrechtlerin Tschikunowa gestorben: Kämpferin für das Leben

Die Russin Tamara Tschikunowa hat sich viele Jahre lang gegen die Todesstrafe eingesetzt – auch wegen ihres Sohnes. Der war hingerichtet worden.

Tamara Tschikunowa - Frau mit Kurzhaarschnitt

Kämpferin gegen Todesstrafe: Tamara Tschikunowa im Jahr 2005 Foto: Bernhard Clasen

BERLIN taz | Ihrer Tränen hat sich Tamara Tschikunowa nie geschämt. Und sie hat jedes Mal geweint, wenn sie darauf zu sprechen kam, warum sie sich den Kampf gegen die Todesstrafe zur Lebensaufgabe gemacht hatte. Am vergangenen Dienstag ist die russische Menschenrechtsverteidigerin, die die letzten Jahre ihres Lebens bei der katholischen Gemeinschaft Sant'Egidio im italienischen Novara verbrachte, im Alter von 73 Jahren verstorben.

Zeit ihres Lebens erinnerte sich Tschikunowa an den Tag im Juli 2000, als sie ihren inhaftierten Sohn wieder einmal im Gefängnis von Taschkent, der Hauptstadt Usbekistans, hatte besuchen wollen. Wenn sie davon davon erzählte, zitterte ihre Stimme.

Irgendwie sei alles anders gewesen als sonst. Nach langem Warten habe sie schließlich beim Dienst habenden Chef vorgesprochen, um herauszufinden, warum dieses Mal alles so lange dauere. Der habe nur geschwiegen und betreten weggesehen. Und als sie nach langer Zeit des Schweigens ein „Wo ist mein Sohn? Ihr habt ihn doch nicht erschossen!“ herausgebracht habe, habe ihr Gegenüber nur stumm genickt.

Tamara hatte verstanden: Ihr 28-jähriger Dmitrij, der ihr noch bei seiner Festnahme im April 1999 ein fröhliches „ich bin in einer Stunde wieder zurück, das ist alles ein Missverständnis“ zugerufen hatte, war am 10. Juli 2000 hingerichtet worden. Sie hatte den Kampf um ihren Sohn verloren. Und auch ihre Suche nach dem Grab ihres Sohnes war ergebnislos geblieben – bis heute. In Usbekistan gelten die Grabstätten von Hingerichteten als Staatsgeheimnis.

Mehrere Jahre in der DDR

Doch Rückzug war Tamaras Sache nie. Als russische Staatsbürgerin wurde sie in Usbekistan geboren. Mit ihrem Mann, einem sowjetischen Offizier, verbrachte sie mehrere Jahre in der DDR, dort wurde auch ihr Sohn Dmitrij geboren. 1994 kehrte die Familie wieder nach Usbekistan zurück.

Sich gegen die Todesstrafe einzusetzen und so zumindest andere vor diesem Schicksal zu bewahren – das sei sie ihrem Sohn schuldig gewesen, sagte sie einmal. Dmitrij hatte nur ihr zuliebe einen Doppelmord gestanden, hatte man ihm doch gedroht, auch seine Mutter zu behelligen, sollte er nicht unterschreiben. Dass ihr Sohn gefoltert worden ist, wusste sie spätestens, als ihr dessen blutverschmierte Wäsche ausgehändigt wurde.

Bei ihren zahlreichen Aufenthalten in den Gefängnissen, vor den Toren und in den Wartezimmern lernte Tamara andere Mütter kennen. Mit ihnen gründete sie die Organisation „Mütter gegen Todesstrafe und Folter“ mit Sitz in Taschkent. 2005 wurde ihr Sohn posthum rehabilitiert. Die Gruppe konnte mit ihren juristischen Einsprüchen die Vollstreckung von 23 Todesurteilen verhindern.

Mehrmals besuchte sie Belarus, das einzige europäische Land, in dem die Todesstrafe immer noch verhängt und vollstreckt wird. Sie kämpfte mit belarussischen Men­schen­recht­le­r*in­nen gegen die Todesstrafe. Ihr Engagement führte sie auch nach Kasachstan, Deutschland, Russland, Italien und die Ukraine.

Audienz beim Papst

Sie sprach mit dem Papst, dem damaligen deutschen Außenminister Frank-Walter Steinmeier, arbeitete mit Amnesty International, Human Rights Watch, dem OSZE-Menschenrechtsbüro ODIHR (Office for Democratic Institutions and Human Rights) und Sant'Egidio zusammen. Die Städte Nürnberg und Genua ehrten sie 2005 und 2009 mit einem Menschenrechtspreis, in Frankreich erhielt sie im Außenministerium den Orden „Ritter im Nationalorden der Ehrenlegion“.

Seit dem 1. Januar 2008 ist die Todesstrafe in Usbekistan abgeschafft. Dies ist vor allem einer Person zu verdanken: Tamara Tschikunowa.

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