Wege aus der Krise: Werden wir zynisch, Leute?

Wut- und Schimpfkonformismus gibt es angesichts der schwierigen Coronalage genug, und zwar auf allen Kanälen. Jetzt braucht es etwas anderes.

Junge Leute mit Gesichtsmasken auf einer Fahrraddemo - eine Teilnehmerin hat ein Schild: Another World is Possible

Eine antikapitalstische Fahrraddemo zum globalen Klimastreik in Berlin Foto: Varvara Smirnova/imago

An einem Freitag im März fand ich mich beim globalen Klimastreik auf der Oberbaumbrücke wieder, die die Berliner Stadtteile Kreuzberg und Friedrichshain verbindet. Maske, Abstand, bitterkalt. Mir blieb nichts, als mich an einer Rede von Frau Neubauer zu wärmen. Die Klimapolitikaktivistin stand in der Mitte der abgesperrten Brücke und steigerte sich nach sanftem Beginn in ein herausgedonnertes Gebet hi­nein, das sich als Umkehrung von Allen Ginsbergs „Howl“ herausstellte.

Während Ginsberg die besten Köpfe seiner (Beat-)Generation als soziale Außenseiter und vom Irrsinn um sie herum zerstört sah, nahm Neubauer sie nach anfänglicher Anerkennung der schwierigen Lage und der eigenen Müdigkeit mit der integrativen Anrede „Leute!“ in die gesamtgesellschaftliche Verantwortung, die Sache zu drehen und „die Parteien zu Höchstleistungen zu treiben in Sachen Klimagerechtigkeit“.

Das Wort „Höchstleistungen“ im Zusammenhang mit Regierungsparteien scheint manchem in diesen Tagen ein Widerspruch in sich, die mediengesellschaftliche Stimmung ist angesichts der jüngsten Coronapolitikversuche der Bundesregierung düster, verärgert, wütend. Was wir gerade erleben, individuell und gesellschaftlich, ist ein „Crashkurs in Desillusionierung“, wie ein Journalistenkollege sagt.

Die Welt von gestern

Die Welt, wie wir sie zu haben glaubten, gab es schon länger nicht mehr, aber im Alltag ja irgendwie doch, weshalb wir uns seit Längerem an Haltepfosten aus Luft klammern. Nun gibt es diese Welt auch im täglichen Leben für viele nicht mehr, und die große Frage ist: Wird wirklichkeitsorientierte Politik auf Höhe der Problemlagen durch die Pandemie und den Vertrauensverlust der Idee, dass Union und SPD „ordentlich regieren“, gestärkt oder weiter geschwächt?

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk, im praktischen Wochenendabo und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.

Die drängendste, da imminente Bedrohung, die wir erleben, ist das Virus. Die Lösung heißt Impfung, aber das dauert hier sehr lange. Das und der tastende Hü-hott-Rest macht zunehmend Leute kirre. Die grundsätzliche Bedrohung dahinter ist, vom nicht zukunftsfähigen business as usual, vom „Wird schon werden“ weiter abzurutschen in eine zynische Larmoyanzgesellschaft des „Alles Scheiße“, die sich von interessierten Strategen zur Waffe gegen die offene Gesellschaft formen lässt.

Ein dauerhafter Vertrauensverlust der Union wäre wohl auch ein Vertrauensverlust der liberalen Demokratie, weil diese ohne eine starke moderat-gesellschaftskonservativ bindende Kraft erodiert. Zunächst könnte aber eine Ampel profitieren. Die neuerdings ja für das Ganze verantwortlich sein wollenden Grünen müssen nach dieser Woche auf alles gefasst sein, auch auf das Kanzleramt.

Selbstwirksamkeit statt Zynismus

Aber die Frage ist ja für alle Leute, die eine wirklichkeitsnähere Politik wollen – durch eine neue und den Krisen angemessene Politikmethode: Was kann ich tun?

Bitte: Es geht vielen dreckig, Kritik ist essenziell für eine liberaldemokratische Gesellschaft, aber Wut- und Schimpfkonformismus nicht. Und auch nicht „zynische Vernunft“, wie wir dank Peter Sloterdjik wissen, sondern nur aktive. Es braucht jetzt wache, gut gelaunte, vorwärts denkende und an ihrer Selbstwirksamkeit arbeitende Köpfe. Die Besten müssen ihr Bestes einbringen.

Das ist eine echte Aufgabe, denn bequemer, als Selbstwirksamkeit hinzukriegen, ist es allemal, sie auf Twitter oder sonst wo zu simulieren und selbst zynisch zu werden.

Leider neige ich auch manchmal zu Letzterem, weshalb ich reflexhaft grinste, als Luisa Neubauer auf der Oberbaumbrücke ihr Gegen-Howl in den Peptalk-Satz münden ließ: „Another World is possible, Leute!“ Aber dann spürte ich plötzlich einen salzigen Geschmack auf der Lippe und dachte: Fuck. Sieh mal besser zu, dass sie am Ende recht behält.

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Chefreporter der taz, Chefredakteur taz FUTURZWEI, Kolumnist und Autor des Neo-Öko-Klassikers „Öko. Al Gore, der neue Kühlschrank und ich“ (Dumont). Bruder von Politologe und „Ökosex“-Kolumnist Martin Unfried

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