Persönliche Propaganda: Die wandelnden Litfaßsäulen

Der Kardashian-Clan hat mehr Follower als Europa Einwohner: „Influencer: Die Ideologie der Werbe­körper“ von Ole Nymoen und Wolfgang M. Schmitt.

Kris Jenner, Kourtney, Khloe und Kim Kardashian in glamourösem Outfit

Kris Jenner, Kourtney, Khloe und Kim Kardashian sind Teil von „Keeping Up with the Kardashians“ Foto: picture alliance/dpa/ZUMA Wire/Imagespace

In­flu­en­ce­r*in­nen erregen im Kosmos der sozialen Netzwerke oft die Gemüter und sorgen für virale Posts oder Tänze, die um die Welt gehen. Weil die wandelnden Litfaßsäulen unserer Zeit scheinbar spielerisch das Marketing der letzten zehn Jahre revolutioniert haben, erscheint im Suhrkamp Verlag nun ein Sachbuch über das Phänomen. „Influencer: Die Ideo­lo­gie der Werbekörper“ wurde vom Soziologen und Wirtschaftswissenschaftler Ole Nymoen und dem Kulturwissenschaftler Wolfgang M. Schmitt verfasst.

Der akademische Hintergrund beeinflusst die Influencer-Betrachtung: Marx und sein Kapitalbegriff sind da ein Muss, schließlich ist „die Arbeit am Selbst und am Körper“, wie die Autoren sagen, „ein wichtiges Neuland der Kapitalakkumulation“.

Besonders interessant ist jedoch, dass die Autoren nicht nur aus Distanz über In­flu­en­ce­r*in­nen schreiben. Sie selbst besitzen Praxiserfahrungen auf Youtube und im Podcast-Bereich, die allerdings – entscheidender Unterschied – nicht auf Werbeeinnahmen abzielen, sondern nur ein breites Following anstreben.

Schmitt ist selbst unter die Youtuber gegangen

Ole Nymoen, Wolfgang M. Schmitt: „Influencer: Die Ideologie der Werbekörper“. Suhrkamp Verlag 2021, 192 Seiten, 15 Euro

Schmitt ist 2011 mit seinem Kanal „Die Filmanalyse“ unter die Youtuber gegangen und dürfte den Wandel von Youtube und den Aufstieg des Influencer-Konzepts auf der Video-Plattform deshalb genau beobachtet haben.

Sei es auf Youtube, Instagram oder Tiktok – durch ihre Recherchen zu In­flu­en­ce­r*in­nen haben die Autoren offensichtlich eine Abneigung gegen dieses Werbeformat entwickelt. Dieses Gefühl vermittelt jedenfalls die Lektüre und manchmal denkt man, die Autoren wollten In­flu­en­ce­r*in­nen in ihrem Handeln nicht analysieren, sondern entlarven.

Das wird besonders in den Einleitungen zu den verschiedenen Kapiteln deutlich, in denen stets ein anonymes, klischee­typisches Bild beschrieben wird. In „Einflussreiche Körperbilder“ schreiben sie über ein männliches Calvin-Klein-Unterwäsche-Model: „Der kräftige Hals führt zu einem Körper, der jeden Versuch, Naivität und Unschuld auszustrahlen, nicht bloß kokett, sondern gänzlich albern erscheinen lässt.“ Der Verriss scheint jedoch überflüssig, wäre doch die objektive Beschreibung stark genug, um das „Alberne“ in der Darstellung zu erahnen.

Schockierende Reichweite der In­flu­en­ce­r*in­nen

Trotzdem lohnt die Lektüre. Die wissenschaftlichen Abschnitte heben interessante Aspekte hervor, denen man sich als Außenstehende nicht bewusst war. So schockiert zum Beispiel die unglaubliche Reichweite mancher Influencer*innen, von denen Po­li­ti­ke­r*in­nen oder Ak­ti­vis­ten*­in­nen nur träumen können.

Die Followerzahl der der Kardashian-Jenner-Familienmitglieder– im Buch Influencer-Avantgarde genannt – übersteigt beispielsweise zusammengerechnet die Einwohnerzahl Europas. Dass Kylie Jenner beim Verfassen des Buchs knapp 200 Millionen, heute aber bereits 218 Millionen Personen auf Instagram folgen, zeigt, dass In­flu­en­ce­r*in­nen noch lange nicht ihre maximale Reichweite erreicht haben.

Die Verantwortung, die damit einhergeht, wird oft unterschätzt. Besonders unrealistische und bearbeitete Körperbilder sowie traditionelle Rollenbilder, die viele In­flu­en­ce­r*in­nen promoten und als Selbstermächtigung verkaufen, sehen die Autoren zurecht kritisch.

Trotzdem ist zu bezweifeln, ob das Publikum wirklich so unaufgeklärt ist, wie es die Autoren annehmen. Nymoen und Schmitt schreiben, dass die Werbung als eine Bereicherung wahrgenommen wird und sich das Publikum mit den In­flu­en­ce­r*in­nen stark identifiziert. Sie sehen darin eine Gefahr. Doch muss einem Influencer-Profil zu folgen bedeuten, dass man allem zustimmt? Es ist ein schmaler Grad zwischen Sympathie und der zeitgenössischen Intelligenz des „Sich-Verkaufens“, auf dem die In­flu­en­ce­r*in­nen sich bewegen. Genauso ihre Follower.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.