Corona-Debatte im Abgeordnetenhaus: Müller mag nicht notbremsen

Der Regierungschef räumt wie tags zuvor die Bundeskanzlerin Fehler ein und setzt gegen steigende Infektionszahlen auf mehr Tests und Impfungen.

Das Foto zeigt Fans des Berliner Volleyball-Bundesligisten BR Volleys, die in einem Projekt mit komplett getesteten Zuschauern erstmals seit Monate wieder auf die Tribüne durften.

Mit Tests wie hier beim Bundesliga-Volleyball soll auch in der Pandemie Live-Publikum möglich sein Foto: dpa

BERLIN TAZ FDP-Fraktionschef Sebastian Czaja brachte die Sache am Donnerstagmorgen im Abgeordnetenhaus auf den Punkt: „Es bleibt die Frage: Was nun, Herr Regierender Bürgermeister?“ Denn der Angesprochene, SPD-Mann Michael Müller, hatte zwar eine mehr als halbstündige Regierungserklärung abgegeben, in Merkel-Manier Fehler eingestanden, sich entschuldigt und skizziert, was Berlin nicht machen werde oder was vielleicht sein könnte. Aber wie es konkret nach der Absage der „Osterruhe“ weitergeht – vor allem mit der Corona-Notbremse angesichts steigender Infektionen –, ließ er offen.

Wer am Mittwoch Angela Merkels Kurzpressekonferenz miterlebte, hatte im Parlament ein Déjà-vue: Wie die Kanzlerin übte Müller Selbstkritik. „Es gibt einen großen Vertrauensbruch zwischen den Bürgerinnen und Bürgern in unserem Land und den politisch Verantwortlichen“, sagte er. „Auch ich habe dazu beigetragen, dass es diese Verunsicherung gibt, und das tut mir leid.“

Er sei wie andere davon ausgegangen, dass die Osterruhe ein Baustein im Kampf gegen die dritte Coronawelle sein könne. „Das war eine Fehleinschätzung“, sagte Müller, der es jedoch ablehnte, die in die Kritik geratenen Treffen von Ministerpräsidenten und Kanzlerin abzuschaffen. Aus seiner Sicht müsse sich aber an der derzeitigen Form – mit Nachtsitzungen und kurzfristig auf den Tisch kommenden Vorlagen – etwas ändern. Dabei forderte Müller auch mehr Vertraulichkeit.

Wie es konkret in Berlin weiter geht, will der Senat, der schon am Mittwochabend außerplanmäßig getagt hatte, offenbar erst bei einer weiteren Sondersitzung am Samstag klären. Müllers Worte ließen allerdings bereits erkennen, dass es in Sachen „Corona-Notbremse“ nicht zu den eigentlichen von Ministerpräsidenten und Kanzlerin vereinbarten Wegfall der Anfang März ermöglichten Lockerungen kommen wird.

Inzidenz zum dritten Mal über 100

Die Notbremse sollte automatisch greifen, wenn in einer Region oder einem Landkreis der Inzidenzwert – die Zahl der Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen einer Woche – an drei aufeinanderfolgenden Tagen über 100 liegt. Das war in Berlin bereits am Dienstag und Mittwoch so – und am Donnerstag zeigte der um 16 Uhr veröffentlichte Corona-Lagebericht einen Wert von 125,3 an.

Innensenator Andreas Geisel ist zwar nicht wie sein Staatssekretär Torsten Akmann (beide SPD) der Ansicht, dass Friedrichshain-Kreuzberg einer Bananenrepublik ähnelt. Inhaltlich aber stimmte er ihm zu: „Die Wortwahl wäre nicht meine, aber in der Sache sind wir uns da einig“, sagte Geisel in der Fragestunde. Seine eigene Formulierung: Der Bezirk bewege sich „an der Grenze der Rechtsstaatlichkeit“. Hintergrund ist der Streit über Brandschutz in der Rigaer Straße 94. Akmann hatte gesagt, so etwas gebe es nur in Friedrichshain-Kreuzberg, das erinnere stark an eine „Bananenrepublik“. Über das Verhalten von Grünen-Baustadtrat Florian Schmidt sei er „fassungslos“. (sta)

Statt alles zurückzufahren, setzt Müller offenbar darauf, durch mehr Tests und verstärktes Impfen die Lage auch ohne Rücknahme in den Griff zu bekommen: „Ich glaube, dass es kein gangbarer Weg ist, jetzt wieder alles zurückzudrehen, was wir uns in den letzten Tagen und Wochen an Möglichkeiten und Freiheiten erkämpft haben“, so Müller.

Neben allem Entschuldigen und Fehler-Eingestehen sah Müller Berlin aber nicht hintendran in der Pandemiebekämpfung: „Wir sind besser und schneller als andere Bundesländer.“ Zudem relativierte der Regierungschef auch die gegenwärtigen Einschränkungen: „Es ist kein harter Lockdown, in dem wir uns jetzt befinden“, sagte er – was aus der Opposition den Zwischenruf auslöste: „Das erzählen Sie mal den Gastronomen.“

Müller: Betriebe müssen Tests anbieten

Müller stützte seine Einschätzung auf die geöffneten Schulen und darauf, dass 70 Prozent der Bürger arbeiten könnten. Zudem gebe es Kontaktmöglichkeiten und keine Ausgangssperren. Im Vergleich zu viel rigideren Maßnahmen wie in Frankreich oder Spanien, wo Kinder teilweise über Wochen nicht nach draußen durften und der Bewegungsradius stark beschränkt war, hatte der Regierungschef durchaus recht.

Er wiederholte die schon nach der Senatssitzung am Dienstag angekündigte Pflicht für Unternehmen, den Beschäftigten Tests anzubieten. Das ist für Müller, der früher mit seinem Vater eine kleine Druckerei führte, nicht bloß in großen Betrieben möglich: „Jeder kleine Handwerker kann für seine drei Gesellen Schnelltests organisieren und die in der Mittagspause machen.“ Der Unternehmensverband UVB lehnte das per Pressemitteilung sofort ab: Ein solcher Berliner Sonderweg würde in der Wirtschaft für noch mehr Verunsicherung sorgen.

Kultursenator Klaus Lederer (Linkspartei) berichtete später von erfolgreicher Versuchen mit einem Konzert und einer Theateraufführung vor durchgetestem Publikum. Am Mittwochabend hatten auch Berlins Bundesligavolleyballer von den BR Volleys probeweise erstmals seit mehreren Monaten vor rund 800 Fans mit negativem Testergebnis gespielt. Grünen-Fraktionschefin Silke Gebel, die seit langem gebetsmühlenartig mehr Tests fordert, schlug mit Blick auf die anstehenden Feiertage vor: „Lassen Sie uns alle zu Testern werden – das wäre die beste Osterüberraschung, die wir uns allen machen können.“

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