Verfahren gegen „Bild“-Chef Reichelt: Viel größer als Julian

Da kommt was auf den Springer-Verlag zu. Etwas, das die ganze Medienbranche betrifft. Mit­ar­bei­te­r*in­nen lassen sich nicht mehr alles gefallen.

Gebäude mit viel Glas in der Dämmerung

Es geht nicht nur um Springer: Neubau des Verlags in Berlin im Oktober 2020 Foto: Paul Langrock

Wie es aussieht, könnte der Chefredakteur der größten deutschen Zeitung nach Beschwerden von Mitarbeiterinnen seinen Job verlieren. Wenn die Vorwürfe stimmen, ist das groß und wichtig für die gesamte Branche. Gleichzeitig fokussiert sich die Berichterstattung gerade dermaßen auf die Person Julian ­Reichelt, dass man meinen könnte, es gehe hier vor allem um das Fehlverhalten eines einzelnen Mannes.

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Der Spiegel-Artikel, mit dem der Fall um Reichelt ausführlich öffentlich wurde, ist überschrieben mit „Vögeln, fördern, feuern“, Anführungszeichen inbegriffen. Angeblich eine saloppe Formulierung, mit der man im Springer-Verlag Reichelts Umgang mit jungen Mitarbeiterinnen bezeichne. Der Bild-Chef soll Volontärinnen und Praktikantinnen zum Abendessen eingeladen, junge Mitarbeiterinnen rasch befördert und bisweilen ebenso rasch wieder gekündigt haben. Die Überschrift transportiert ein Bild vom gewieften Macho, der sich Frauen wie Objekte nimmt.

Das ist nur eine Geschichte über Reichelt und seine Gegner. Die andere ist eine über Mitarbeiterinnen, die gegen eine autoritäre Betriebskultur aufbegehren. Diese Geschichte droht unterzugehen zugunsten einer Charakterstudie über einen kontroversen Chefredakteur.

Viele Texte behandeln prominent Reichelts mutmaßlichen Kokainkonsum, seine Intimbeziehungen. Natürlich auch seinen Ton gegenüber Mitarbeitenden, aber dann geht es wieder darum, dass er eben ein Anpacker sei, einer, der noch die alte Schule in sich trägt. Medienjournalistin Ulrike Simon nennt Reichelts Führungsstil „ruppig“ und schreibt im Branchenmagazin Horizont: „Vor zehn oder zwanzig Jahren wäre ein solcher Umgangston nicht der Rede wert gewesen, erst recht nicht bei Bild. Redaktionen wurden autoritär und patriarchalisch geführt.“

Aufstieg und Fall, Helden und Gegner

Wo die einen sich moralisch an der Person Reichelt abarbeiten, kommen unweigerlich die anderen zur Ehrenrettung. Der ehemalige Politik-Chef der Bild, Georg Streiter, erklärtermaßen kein Reichelt-Fan, kritisiert im Cicero den Spiegel: „Vieles wussten die Autoren nur vom Hören-Sagen, man erfuhr nicht, wer es ihnen gesagt hat.“ Das ist, was Streiter auch hinzufügt, natürlich typisch für „MeToo“-Berichterstattung. Doch für die, die prominente Personen beschuldigen, ist Anonymität essenziell.

Was habt ihr uns eigentlich noch zu bieten, ihr da oben, dafür, dass wir uns von euch täglich anblaffen lassen?

Also schreibt man über den Beschuldigten. Gerne über seinen Charakter insgesamt. Seit vergangenem Samstag ist Reichelt vorläufig beurlaubt – wie es heißt, auf eigenen Wunsch. Alexandra Würzbach, bisher verantwortlich für die Bild am Sonntag, übernimmt den Chefinposten über alle Bild-Produkte. Vorstand Jan Bayer ersetzt Reichelt in der Geschäftsführung.

Was auch zu jeder guten Geschichte über Aufstieg und Fall eines zweifelhaften Helden gehört, sind die Gegner. Das Vorstandsmitglied, das das interne Verfahren gegen Reichelt ins Rollen brachte. Diejenigen, die Reichelts Kurs der letzten Zeit verachten. Komiker Jan Böhmermann hat in seiner ZDF-Sendung die Vorwürfe gegen Reichelt schon mehrere Tage vor dem Erscheinen der Spiegel-Geschichte angedeutet.

Autor Benjamin von Stuckrad-Barre wird nachgesagt, eingewirkt zu haben, er pflegt gute Beziehungen in den Verlag und hat Reichelt im vergangenen Jahr als Rassisten zu überführen versucht. Ohnehin gibt es spätestens seit Mai 2020 immer mehr öffentliche Kritik auch aus Springer-nahen Kreisen an Reichelt. Georg Streiter kritisiert damals in einem ausführlichen Facebook-Post Reichelts Kampagne gegen Drosten.

Spannend, spannend. Und die Geschichte der mutmaßlich Betroffenen? Wie geht die noch mal?

Es geht immer erst mal ums Unternehmen

Im Axel-Springer-Verlag selbst scheinen sich zwei Umgangsformen gefunden zu haben. Das erwähnte interne Verfahren einerseits, das die Vorwürfe gegen Reichelt aufklären soll. Zumindest weit genug, um Schaden vom Unternehmen abzuwehren und Strafverfahren zu verhindern. Andererseits eine interne Kampagne gegen die Frauen, die gegen Reichelt aussagen. Wie der Spiegel berichtet, soll nach Bekanntwerden der Vorwürfe auf mindestens eine der Betroffenen Druck ausgeübt worden sein. Ein sogenannter „Reichelt-Getreuer“ aus der Bild-Führung soll der Frau klargemacht haben, dass sie besser nicht aussagen solle.

Mann mit Headset-Mikro gestikuliert

Inzwischen als „Bild“-Chefredakteur freigestellt: Julian Reichelt im Januar 2020 Foto: Roland Weihrauch, dpa

Das erinnert an 2017, damals stand der damalige Bild-Chef Kai Diekmann unter Verdacht, eine Springer-Mitarbeiterin belästigt und vergewaltigt zu haben. Diekmann hat den Vorwurf stets bestritten. Die Staatsanwaltschaft Potsdam hat das Verfahren wegen sexueller Belästigung noch im selben Jahr eingestellt.

Gegen die Mitarbeiterin begann eine Art hauseigene Bild-Kampagne. Reichelt soll ein Gedächtnisprotokoll der Tatnacht angefertigt haben, obwohl er zur Tatzeit gar nicht anwesend war, und darin über seine Erfahrungen mit der Mitarbeiterin geschrieben haben. Er soll Mitarbeiter animiert haben, weitere Nachforschungen über die Betroffene vorzunehmen.

Mindestens vier Frauen im aktuellen Vorgang, so schreibt es die Zeit, sollen sich Anwälte genommen haben. Namentlich will bislang keine sprechen. Ihnen dürfte klar sein: Bei solchen internen Verfahren geht es immer erst einmal ums Unternehmen.

Boulevardesk wird die Geschichte noch nicht da, wo man sie mit „Vögeln, fördern, feuern“ überschreibt. Sondern da, wo viele Sachverhalte zusammengeworfen werden. Natürlich bietet sich Häme an, wenn Springer-Vorstand Mathias Döpfner vor einer „Vorverurteilung“ warnt, wo man doch die ethisch fragwürdige Arbeitsweise des Verlags vor Augen hat. Aber es sollte journalistisch nicht um die „Zerstörung der Bild“ oder um die „Zerstörung Julian Reichelts“ gehen, die manchen zweifellos gelegen käme.

Toxische Betriebskultur

Nehmen wir die Fäden auseinander: Welche Drogen ein Chefredakteur mutmaßlich nimmt, ist für das Unternehmen, das ihn tragen muss, gewiss relevant. Für die Öffentlichkeit ist es höchstens unterhaltsam. Bei privaten Intimbeziehungen wird es schwieriger, sofern sie mit Mitarbeiterinnen stattfinden. Da geht es gegebenenfalls um eine toxische Betriebskultur in einer Branche, die noch lange nicht gendergerecht ist. Und um einen von unsicheren Arbeitsverhältnissen geprägten Journalismus.

Geschichten wie diese gibt es auch in anderen Medienhäusern. Die Deutsche Welle sieht sich seit Jahren mit Vorwürfen von Mitarbeitenden konfrontiert, die stark an die aktuellen erinnern: autoritäre Vorgesetzte, cholerischer Umgangston, Druck auf feste Freie, Übergriffe. Das Muster des Annäherns vor allem an junge weibliche Kolleginnen erinnert an die Vorwürfe gegen einen Tagesspiegel-Mitarbeiter von 2019.

Und gerade erst haben 78 Journalistinnen des Schweizer Medienkonzerns Tamedia in einem offenen Brief eine Kultur der sexistischen Zoten, Anzüglichkeiten und der Übergriffigkeit beschrieben – und ein Wegsehen und Wegreden der Vorgesetzten angeprangert. Bei keinem dieser Fälle gibt es einen Julian Reichelt, auf den sich alles, was schiefläuft, projizieren lässt.

Das darf nichts entschuldigen. Nicht Reichelts Verhalten und nicht seinen Verlag. Vieles an dieser Geschichte scheint Bild-spezifisch: Hier ringt eine Marke um Relevanz – und Reichelt, der Provokateur, der Kriegsreporter, der im Sich-unbeliebt-Machen zu Hause ist, schien vielen lange der Richtige für den Job, Bild umzukrempeln fürs 21. Jahrhundert.

Im Boulevardjournalismus geht es zudem um starke Gefühle. Rache, Wut, Angst, Vergeltung. Eine Geschichte muss knallen, koste es, was es wolle. Wer so arbeitet, muss bereit sein, Grenzen zu überschreiten und bei Gegenwind nicht einzuknicken. Reichelt habe die Bild mit Hass geführt, nicht mit Herz und Hirn, trägt Ex-Politikchef Streiter im Cicero einen weiteren Stabreim zur Debatte bei.

Der Springer-Verlag hat seit zehn Jahren einen freundlich gestalteten Verhaltenskodex, in dem von Vertrauen und Empathie im Umgang die Rede ist, von Höflichkeit, Achtung und Respekt. Trotzdem hatte es offenbar lange niemand eilig, diesen auf den Chef anzuwenden. Würde, falls Reichelt rausfliegt, eine Nachfolgerin namens Alexandra Würzbach einen dem Verhaltenskodex entsprechenden Betrieb schaffen? Oder ein Nachfolger namens Claus Strunz, der neue „Bild Live“-Chef? Das hier ist nicht nur ein Problem Reichelt, sondern auch ein Problem Bild und ein Problem Springer.

Sexismus kein verschrobener Charakterzug

Und wenn man weiter rauszoomt, ist es eben auch ein Problem der Branche. Von dem Geist der autoritären und patriarchalischen Vorgesetzten, den Medienjournalistin Simon in einer Zeit „vor zehn oder zwanzig Jahren“ verortet, ist noch ganz schön viel übrig. Nur haben sich in der Zwischenzeit zwei entscheidende Dinge verändert. Zum einen haben Digitalisierung und Zeitungskrise Arbeit verdichtet. Die Bezahlung stagniert, Festanstellungsperspektiven sind mau. Statt Ruhm und Ehre gibt es Hassmails und Shitstorms.

Was habt ihr uns eigentlich noch zu bieten, ihr da oben, dafür, dass wir uns von euch täglich anblaffen lassen?, fragen sich die Neuen. Und euer Sexismus ist übrigens auch kein verschrobener Charakterzug, sondern ein ernstes Problem, fügt die #MeToo-Bewegung hinzu – das ist die zweite entscheidende Sache, die sich verändert hat.

Also zurück zur Geschichte der mutmaßlich Betroffenen, wie lautet sie? Ist es für die Leidtragenden überholter Betriebskultur in der Branche relevant, ob Julian Reichelt kokst? Ob er sympathisch ist? Ob es eine Verschwörung gegen ihn gibt? Besser als den Bild-Chef genüsslich fallen zu sehen, sollte man schon jetzt aus dem Vorgang lernen. Für den nächsten.

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