Deutsches Wahljahr 2021: Enttäuschte wählen weniger

Solange sich soziale Ungleichheit in den Parlamenten widerspiegelt, wird es Misstrauen gegen die Demokratie geben.

Illustration: Katja Gendikova

Populistische Parteien sind in vielen demokratischen Ländern erfolgreich. Dies ist schon lange in Österreich oder Frankreich der Fall, aber inzwischen auch in Spanien, Portugal oder Deutschland, die lange als immun galten. Für diese Entwicklung werden besonders oft zwei Erklärungsangebote diskutiert: die Modernisierungs- und die Globalisierungsthese.

Die erste These besagt, dass Gesellschaften mit der Zeit liberaler werden, also toleranter gegenüber alternativen Lebensentwürfen, sexuellen Identitäten und kultureller Vielfalt. Dagegen regt sich Widerstand. Die Globalisierungsthese hebt die zunehmende Vernetzung der Weltwirtschaft und den daraus resultierenden Wettbewerbsdruck hervor. Diese beiden Großtrends erzeugen eine Gruppe von Ver­lie­r:in­nen, deren Lebensentwürfe und Qualifikationen entwertet werden.

Ihnen verleihen, so die verbreitete Annahme, populistische Parteien eine Stimme, weil sie nostalgisch eine bessere Vergangenheit beschwören: Make America Great Again. Beide Thesen erklären den Populismus weitgehend politikfrei durch unaufhaltsame, langfristige Trends. Gesellschaftlicher Wertewandel wird durch Faktoren wie Bildungsexpansion oder Urbanisierung angetrieben und wirtschaftliche Globalisierung ist Ergebnis veränderter Technologien, die grenzüberschreitende Investitionen erleichtern.

Populisten wie Ex-US-Präsident Donald Trump beharren dagegen darauf, dass diese Prozesse gestaltbar sind und ihren Konsequenzen unterschiedlich begegnet werden kann. Wer gewinnt und wer verliert, hat mit politischen Entscheidungen zu tun, die stärker die Anliegen derjenigen beachten, denen es ohnehin besser geht. Seine Kraft bezieht der Populismus auch daraus, dass diese Beobachtung nicht ganz falsch ist: Demokratie verspricht politische Gleichheit, doch sie löst dieses Versprechen nur unvollständig ein.

Insgesamt steigt die Wahlbeteiligung

Rein rechtlich betrachtet ist die Demokratie heute vielerorts egalitärer als in der Vergangenheit. Mehr Menschen als früher haben das Wahlrecht, und es wird darüber diskutiert, wie diese Rechte auf noch ausgeschlossene Gruppen ausgeweitet werden können – beispielsweise, indem das Wahlalter abgesenkt wird oder die Verbindung zwischen Wahlrecht und Staatsbürgerschaft gelockert wird.

Fragt man jedoch, ob diese rechtliche Gleichheit zu gleichen Einflusschancen aller führt, fällt die Antwort weniger optimistisch aus. Eine Fülle politikwissenschaftlicher Forschungen zum politischen Engagement und zur politischen Repräsentation geben den Beleg dafür. Nachdem die Wahlbeteiligung über Jahre stetig weniger wurde, ist sie in den letzten Jahren wieder leicht gestiegen. Zwar wird das Niveau der 1970er Jahre noch nicht erreicht, doch im internationalen Vergleich liegt Deutschland im soliden Mittelfeld.

Hinter der durchschnittlichen Wahlbeteiligung verbergen sich jedoch sehr große Unterschiede. So gaben bei der Landtagswahl 2016 in Stuttgart-Zuffenhausen, wo relativ viele Hartz-IV-Empfänger wohnen, 63 Prozent die Stimme ab. In Degerloch, wo weit weniger Hartz-IV-Empfänger leben, waren es hingegen 80 Prozent. In Städten wie Köln oder Hamburg, für die genauere kleinräumige Daten vorliegen, sind die Unterschiede noch deutlich größer.

Bei der Bundestagswahl 2017 lagen mehr als 45 Prozentpunkte zwischen dem Stadtteil mit der höchsten und dem mit der niedrigsten Wahlbeteiligung – und nichts spricht dafür, dass sich an dieser Kluft im Superwahljahr 2021 etwas ändern wird. Nun besteht in Deutschland keine Wahlpflicht, und warum sollte es uns irritieren, wenn Menschen freiwillig auf das Recht zu wählen verzichten? Zwei Gründe sprechen dafür.

Das Umfeld beeinflusst das Wahlverhalten

Zum einen entscheiden sich Menschen nicht völlig unabhängig von ihrem sozialen Umfeld für oder gegen ihre Stimmabgabe bei den Wahlen. Wer mit Menschen spricht, sei es in der Familie, im Freundeskreis oder in der Nachbarschaft, für die es selbstverständlich ist, die Stimme am Wahltag abzugeben, wird dies auch selbst eher tun als jemand, der oder die vor allem mit anderen Nicht­wäh­le­r:in­nen zu tun hat.

Wer auf dem Weg zur Bäckerei von Bekannten gefragt wird, ob sie oder er schon gewählt hat, wird zumindest an die Wahl erinnert. Zum Zweiten drückt nicht zu wählen keineswegs Zufriedenheit aus, wie man in der Vergangenheit annahm. Im Gegenteil: Wer von der Politik enttäuscht ist, bleibt häufiger zu Hause oder wählt Protestparteien. Menschen, die sich politisch nicht beteiligten, haben wenig Hoffnung, dass sich durch eine Wahl etwas ändern wird, wie die Auswertung von Umfragen zeigt.

Wahlen sind natürlich nur eine Form des politischen Engagements. Aber auch bei Demonstrationen, Petitionen, der Mitarbeit in Bürgerbewegungen, Verbänden oder Parteien zeigt sich ein ähnliches Muster: Wer über mehr Geld verfügt und einen höheren Bildungsabschluss hat beteiligt sich häufiger. Wenn wir beispielsweise die Bildungsabschlüsse betrachten, so unterscheiden sich schon die Parteimitglieder vom Rest der Bevölkerung.

Noch größer wird der Abstand, wenn man auf die Man­dats­trä­ge­r:in­nen oder gar auf Mi­nis­te­r:in­nen auf Landes- und Bundesebene blickt. Mehr als 80 Prozent der Abgeordneten im Bundestag haben studiert. In der Bevölkerung liegt der Anteil bei etwa 20 Prozent. Beamte, An­wäl­t:in­nen oder Un­ter­neh­me­r:in­nen sind im Parlament überrepräsentiert, Ar­bei­te­r:in­nen jedoch deutlich seltener als in der Bevölkerung dort anzutreffen.

Arme lassen sich nicht aufstellen

Während die numerische Unterrepräsentation von Frauen zu Recht diskutiert wird, erregt die fast vollständige Abwesenheit bestimmter Berufs- und Ausbildungsgruppen die Gemüter nicht. Schon wie Kan­di­da­t:in­nen ausgewählt werden, bevorzugt diejenigen, die mehr Zeit und mehr Geld haben – und die denen ähnlich sind, die schon politische Posten innehaben.

Die Bereitschaft zur Kandidatur, sei es auf lokaler, regionaler oder Bundesebene, hängt auch davon ab, dazu ermutigt zu werden. Doch die schon Aktiven suchen eher nach Menschen aus ihrem eigenen sozialen Umfeld und reproduzieren dadurch bestehende Ungleichheiten. Schon der innerparteiliche Wahlkampf erfordert einen hohen Aufwand, da zahlreiche Parteigremien besucht und Telefonate geführt werden müssen, um für sich selbst zu werben.

Wer ungünstige Arbeitszeiten hat, sich um Kinder oder Pflegebedürftige kümmern muss, den Wahlkampf zeitlich nicht meistern kann oder nicht über ausreichend finanzielle Möglichkeiten verfügt, ist hier deutlich im Nachteil. Wenig überraschend, werden Männer mit Studienabschluss und aus Berufen mit höherer Zeitautonomie häufiger als andere Gruppen als Direktkandidaten nominiert.

Diese Unwucht in der Zusammensetzung von Parlamenten, so zeigen Forschungsergebnisse der letzten Jahre, hat Folgen für die Debatten und Entscheidungen. In der Summe stimmen die politischen Einstellungen der Abgeordneten stärker mit jenen Gruppen überein, die ihnen in sozialer Hinsicht ähnlicher sind. Dagegen teilen sie seltener die politischen Einstellungen von ärmeren oder gering gebildeten Bürger:innen, beispielsweise in der Migrationspolitik oder der Sozial- und Steuerpolitik.

Zwar ist der Deutsche Bundestag kein Parlament der Millionär:innen, trotzdem reflektieren seine Entscheidungen die politischen Präferenzen von einkommensstarken Gruppen häufiger als die der Geringerverdienenden. Ein vermeintlich abweichendes Beispiel, wie die Einführung des Mindestlohns, widerspricht dieser allgemeinen Beobachtung nicht, denn sie wurde von Arm wie Reich mit großer Mehrheit befürwortet.

Politik der Bessergestellten für Bessergestellte

Doch wenn die politischen Überzeugungen sozialer Gruppen voneinander abweichen, folgt die Politik viel häufiger den Bessergestellten – wie sich beispielsweise bei dem Verzicht zeigt, die Vermögenssteuer wieder einzuführen. Wer mehr hat, wird besser repräsentiert. Wie die Demokratie tatsächlich funktioniert, weicht, so zeigen zahlreiche Forschungsarbeiten, vom abstrakten Ideal politischer Gleichheit ab.

Und diese Ungleichheit in der Möglichkeit, mit den eigenen Anliegen Gehör zu finden, wird auch so wahrgenommen. Werden Menschen gefragt, ob sie politische Entscheidungen beeinflussen können oder ob das politische System Menschen wie ihnen selbst eine Mitsprachemöglichkeit bei dem, was die Regierung tut, einräumt, fallen die Reaktionen negativ aus.

Gleichzeitig gibt es ein klares Muster, welche Gruppen sich besonders machtlos fühlen: Menschen mit geringerer Qualifikation, weniger Geld oder niedrigem Bildungsabschluss. Aus Sicht der weniger Privilegierten ist Politik etwas, das fern von ihnen stattfindet, wo die eigenen Anliegen nicht beachtet werden und das sich dem eigenen Einfluss entzieht. Wird die Politik als unzugänglich wahrgenommen, übersetzt sich dies häufig in politische Apathie – die Enttäuschten arbeiten nicht in Parteien mit, schreiben den Abgeordneten keine E-Mails und bleiben am Wahltag häufig zu Hause.

Ein kleiner Anteil der Enttäuschten nutzt jedoch Wahlen, um gegen die wahrgenommene Missachtung zu protestieren, und stimmt für populistische Parteien. Zwischen dem Gefühl, keinen Einfluss zu haben, und der AfD-Wahl besteht ein enger Zusammenhang. Das heißt natürlich nicht, dass alle Wäh­le­r:in­nen rechtspopulistischer Parteien die Ideen dieser Parteien ablehnen. Zumindest ein Teil wählt sie jedoch vor allem deshalb, weil er sich durch andere Parteien nicht vertreten fühlt.

Parlamente müssen kein perfektes Abbild der Gesellschaft sein, aber wenn zu viele Menschen dauerhaft schlecht vertreten werden, muss es niemanden wundern, dass das Vertrauen in die Demokratie schwindet.

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