Geschlechtersensible Medizin: Eine Frau ist kein Mann plus Hormone

Der Maßstab der meisten medizinischen Studien ist immer noch der 75-Kilo-Mann. Dabei könnte eine geschlechtersensiblere Medizin Leben retten.

Ein Mediziner zieht eine Impfspritze auf

Sollen Männer früher geimpft werden, weil sie häufiger einen schweren Covid-Verlauf haben? Foto: Rupert Oberhäuser/imago

Vor Kurzem schrieb ein Autor bei Zeit Online einen aufsehenerregenden Kommentar: „Männer first!“ Gemeint war, dass Männer früher als Frauen die Corona-Impfung bekommen sollten. Der Grund: Männer erkranken häufiger schwer an Covid-19 und haben ein höheres Sterberisiko als Frauen.

Ich kann den Autor verstehen. Er ärgert sich über die geschlechterneutrale Medizin. Andere tun das schon lange. Der Autor benutzt das Wort zwar nicht, aber sein Text ist im Prinzip ein Plädoyer für die „geschlechtersensible Medizin“.

Also eine Medizin, die sowohl die biologisch-naturwissenschaftlichen und soziokulturellen Aspekte der Geschlechter als auch die personellen Geschlechterkonstellationen in Behandlung und Forschung berücksichtigt. Ob ihm die Ironie klar war, dass er mit seinem Kommentar für etwas plädiert, das Frauen und LGBTI-Personen schon lange fordern?

Mir gefällt der Begriff „geschlechtersensibel“ nicht, weil er suggeriert, Medizin müsse super sensibel gegenüber anderen Geschlechtern (außer dem männlichen) sein, weil das „politisch korrekt“ sei. Medizin, die Menschen als das behandelt, was sie sind, ist vor allem eins: vernünftig.

Die Suche nach „emotionalen“ Ursachen

Man weiß noch nicht, woran es genau liegt, dass Männer häufiger an Covid-19 versterben. Es gibt zwar erste Studien, die nahelegen, dass das etwas mit dem Immunsystem zu tun hat. Aber für eindeutige Antworten ist es zu früh. Das Immunsystem allein erklärt zum Beispiel nicht, dass in Indien als scheinbar einzigem Land der Welt nicht Männer, sondern deutlich mehr Frauen an Covid-19 sterben.

Das Problem ist eben, dass nicht das Geschlecht allein eine höhere Sterblichkeit verursacht. Es spielen immer auch individuelle Faktoren eine Rolle, wie Übergewicht, Diabetes oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Deswegen kann auch nicht generell entschieden werden, dass Männer vor Frauen geimpft werden. Wäre das Geschlecht der einzige Faktor – na klar müssten dann Männer zuerst geimpft werden!

Gesichert sind generell aber folgende Fakten: Medikamentenstudien werden nicht verpflichtend an allen Geschlechtern durchgeführt; bei Frauen wird der Herzinfarkt oft spät oder gar nicht erkannt, weil Frauen nicht die „typischen“ (also männlichen) Symptome haben; bei Frauen mit Schmerzen wird eher nach „emotionalen“ Ursachen als nach körperlichen Ursachen gesucht; Osteoporose betrifft auch Männer; bei Männern wird häufiger nach körperlichen Symptomen gesucht und Depressionen werden seltener erkannt. Und vieles mehr.

Alles, was ich im Medizinstudium gelernt habe, war ausgerichtet am 75-Kilo-Mann. Eine Frau ist aber kein Mann plus Hormone. Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt spielt in der Forschung bisher kaum eine Rolle. Es ist an der Zeit, dass sich das ändert. Also bitte nicht „Männer first!“, sondern „Alle first!“.

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Ausgebildet als Ärztin und Politikwissenschaftlerin, dann den Weg in den Journalismus gefunden. Beschäftigt sich mit Rassismus, Antisemitismus, Medizin und Wissenschaft, Naher Osten.

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